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The "Blue Chevalier"-Tavern - Geschichten aus dem "Blauen Ritter"

The "Blue Chevalier"-Tavern - Geschichten aus dem "Blauen Ritter"

„Hallo, Ihr da? Gestattet mir, mich vorzustellen? Ich bin Kalifa, Kalifa Dal’Maris - und ich bin Wirtin. Wirtin vom „Blue Chevalier“, dem Blauen Ritter. Nun bin ich nicht Wirtin geworden, weil ich nichts geworden bin, sondern weil es sich einfach so ergeben hat. Eigentlich bin ich Kriegerin – Keulenschwingerin eher gesagt, aber das nur nebenbei. Dämonen zu hauen, ist nicht immer spannend.

Hier im „Blauen Ritter“ ist ständig was los – ja wirklich! Die Leute kommen und gehen, essen und trinken hier – und vor allen haben sie was zu erzählen. Geschichten über die größeren und kleineren Abenteuer dieser Welt. Geschichten über die Menschen und Ereignisse, die im Lande geschehen. Geschichten über das Meer, über Piraten und Seeleute. Geschichten über Krieger und Magier. Über Helden und Drachen. Wahre Geschichten. Manchmal auch Geschichten, die reine Fantasie sind. Lustige Geschichten. Traurige Geschichten. Aber meistens sind es sehr zauberhafte Geschichten. Spannende Geschichten vor allem! Nun ja… man erzählt sich hier viele Geschichten. Vielleicht erzählt man sich hier auch bald deine Geschichte? Ich würde Sie gerne einmal hören. Dir zuhören. Und wenn Sie mir gefällt, einem anderen weitererzählen. Hier – im „Blue Chevalier“ oder auch woanders – wer weiß!“

 
Königliche Turbulenz

„Hast du wirklich den König gesehen?“ Lachend spürte Kalifa der winzigen Faust nach, die an wild an ihrem Rocksaum herumzurrte und sie mit aller Gewalt auf die Größe eines kleinen aufgeregten Mädchens zwang, das sie mit glänzenden großen Augen ansah.
„Und hatte er wirklich eine Krone auf… und einen roten Mantel… und einen schwarzen Bart?“
Rani, wie das kleine Mädchen hieß, wurde dann kurzerhand hochgehoben und auf dem Arm genommen.
„Stell dir vor …“, die Kleine bekam einen Stups auf die Nase, „das hatte er …. Und eine ganz tiefe Stimme und er war so stattlich, das alle schönen Damen im Saal völlig dahingeschmolzen sind. Aber natürlich haben sich diese nicht anmerken lassen. So ein König wählt natürlich nur eine richtige Prinzessin… „
„Ist das ganz sicher?“ Kalifa wurde mit einem sehr skeptischen Blick von Rani gemustert.
Sie nickte kurz und schmunzelte dann, weil die Kleine dazu auch noch eine süsse Schnute machte.
„So sicher, wie Shari immer stinkigen Fisch aus dem Meer holt und ihm Jon auf die Stulle legt.“ Rani kicherte fröhlich und bohrte dabei ihre kleine Nase in ihre Schulter. Kalifa kicherte noch noch einen Augenblick mit und setzte dann das Mädchen wieder ab, das ihr mittlerweile doch zu schwer geworden war. Mit ihren fünf Jahren hatte das Mädchen bereits ein ganz schönes Gewicht. Sie drückte dem Kind noch einen Kuss auf die Schläfe.
„Lauf schnell in die Küche, ich glaube heute hat sie einen leckeren Kuchen gebacken. Frag sie, ob du ein Stück haben darfst!“
Es war wirklich erstaunlich, was Kinder für eine Geschwindigkeit entwickeln konnten, wenn sie etwas zu Süßes zu essen bekamen. Aber die Kinder im den kleinen Dorf wurden hier von allen geliebt.

Kalifa trat vor die Tür und setzte sich auf die kleine Bank an der Treppe, die zum großen Festsaal hinaufführte. Der Herbst hatte noch ein paar warme Tage hervorgebracht, und es war noch ganz angenehm, draußen zu sitzen.
Sie war wieder zu Hause. Zu Hause … das war dieses kleine Dorf an der Küste in der Nähe des Shrine of Honor. Zu Hause – das war auch ihr „Blue Chevalier“ – der Blaue Ritter, eine Taverne mit gehobener Küche und eigener Schnapsbrennerei. Ein Ort, wo die Schiffe der Fischer sanft an der Wasserkante hin und her schaukelten, wenn sie hier vor Anker lagen, und wo hin und wieder wie aus dem Nichts die Schmuggelware aus Bucc’s Den auftauchte, die dann auf geheimen Pfaden ihren Weg ins Landesinnere fand.

Unten aus dem geöffneten Fenster der Taverne hörte man jetzt die volle Stimme einer jungen Bardin, die zu den Klängen ihrer Laute ein Lied anstimmte:

Well I recall his parting words
Must I accept his fate
Or take myself far from this place
I thought I heard a black bell toll
A little bird did sing
Man has no choice
When he wants every thing *


Ein laues Lüftchen wehte von der See herüber, und da gerade keine Gäste zu bewirten waren, nutzte die junge Wirtin die Gelegenheit, die Ereignisse vor ein paar Tagen gedanklich Revue passieren zu lassen.

We'll rise above the scarlet tide
That trickles down through the mountain
And separates the widow from the bride

Man goes beyond his own decision
Gets caught up in the mechanism
Of swindlers who act like kings
And brokers who break everything
The dark of night was swiftly fading
Close to the dawn of day
Why would I want him just to lose him again *


Die Königlichen Audienzen …oder sollte man das eher königliche Turbulenzen nennen, was sich dort in Britain zu besagten Terminen immer abspielte? Ein König und seine wildgewordenen Gouverneure? Sie schüttelte leicht nachdenklich und augenrollend den Kopf. Noch immer konnte sie noch nicht recht begreifen, was sie in der Hauptstadt selbst erlebt hatte und was sich auch mit den Erzählungen Ne’Patinors deckte. Gouverneure, die aus verletzten Eitelkeiten aus einer Laune heraus ihre Ämter niederlegten oder durch Nichterscheinen glänzten. Die ihre Stadt von der Krone lossagten und dann als vogelfrei erklärt wurden und von deren Verbleib man bis dato immer noch nichts wusste. Und Gouverneure, die – ob nun gewollt oder nicht – sich zwischen den Fronten eines sehr merkwürdigen Krieges befanden. Vampire und Spinnen. Wieder rollte sie leicht die Augen. Und dann dieser König!

Kalifa schnaubte leise verächtlich. Kaum vorstellbar, das dieser ausgemachte Tyrann von damals sich plötzlich zu einem zahmen Kätzchen verwandelt haben sollte.

We'll rise above the scarlet tide
That trickles down through the mountain
And separates the widow from the bride *

Als bester Freund und zugleich ärgster Feind von Lord British, war Blackthorn schon immer eine umstrittene Figur gewesen. Ein landesweit bekannter Unruhestifter und ein glühender Verteidiger solcher Werte wie Individualität und Freiheit auf Basis seiner eigenen „Tugend des Chaos“, wobei das Chaos angeblich in diesem Zusammenhang nicht auf der zerstörerischen Kraft beruhte, mit der es normalerweise verbunden wurde – zumindest glaubte und behauptete er das unter anderem auch in diversen Büchern, die er verfasste.

Seine Lehre bildete das Gegenstück zu der Lehre der Tugenden, die von Lord British, damals König in Britannia geformt wurde, einer Lehre, von der er glaubte, das sie einen zu strengen Rahmen abgab für wie er sagte „echte Aufrechterhaltung der Eigenständigkeit“.

Wie auch immer! Man erzählte sich viel über diesen König, aber es war nicht zu leugnen, das er eines Tages der Versuchung des Schurken Exodus unterlag, zu einer boshaften Monstrosität wurde und das Land durch Tyrannei unterdrückte, was sich vor allen darin gezeigt hatte, wie Yew damals von den Juka attaktiert wurde .. und nicht nur Yew! Auch Trinsic war damals betroffen. Der späteren Königin Dawn war es dann zu verdanken, das mit Hilfe der Meer, einem Volk, das in Ilshenar lebte, das das Land wieder befreit und Blackthorn besiegt wurde.

Und dieser Mann saß nun auf den Thron in Britain und hatte endlich das erreicht was er immer schon gewollt hatte. Kalifa seufzte etwas. Sie kannte andere Herrscher, Könige, die als wahre Herrscher zuerst ihrem Land und ihrem Volk dienten und nicht ihren Interessen. Sie war sich noch nicht ganz klar, was sie von diesen König zu halten hatte. Aber das Desinteresse über die Vorgänge im Land, wie von Ne’Patinor berichtet, gab ihr schwer zu denken. Noch ahnte die Krone nichts von der Existenz dieses kleinen Dorfes, und sie hoffte, das es noch eine kleine Weile so bleiben würde.

Ein Schatten fiel über sie und riss sie aus diesen etwas trüben Gedanken. Sie sah auf und erblickte Ne’Patinor, der etwas angespannt wirkte.
„Ne‘… was ist denn? Was ist denn los? Ist was passiert?“ Sie sah ihn erschrocken an.
„Noch nicht, MyLady,“ entgegnete er, „aber wenn wir nicht gleich etwas tun, dann fürchte ich, wird noch was passieren.“ Ne’Patinor zeigte dann über das Meer, wo sich eine dicke Front schwarzer schwerer Sturmwolken gebildet hatte.
„Wir sollten hier die Schotten dicht machen und zwar möglichst flott. Das, was da anrollt, sieht nicht gerade freundlich aus.“ Kalifa nickte knapp.
„Du hast Recht. Ruf die anderen Männer und bringt die Leute in Sicherheit. Viel Zeit bleibt uns nicht mehr!“

Draußen auf dem Meer machte sich der Sturm bereit, zu einem alles verschlingenden Monster zu werden.

We'll rise above the scarlet tide
That trickles down through the mountain
And separates the widow from the bride *


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[* The Scarlet Tide - Lyrics by Elvis Costello, Lied findet sich auf einer CD von Joan Baez „The Day after Tommorow“. Das Lied bildet auch das Leitthema im Film „Unterwegs nach Cold Mountain“]
 
Der Sturm

Der Sturm tobte bereits auf dem offenen Meer, das nun ein einziger schwarzer nasser Raum geworden war. Dichter, schwerer Regen prasselte unaufhörlich von Wolken verhangenen Himmel, aus dem immer wieder grelle Blitze herunterzuckten und die Umgebung in gleißendes Licht tauchte. Der laut brüllende Wind türmte mit heftigen Böen das Wasser zu hohen Wellen auf, die das Schiff immer wieder von einer Seite auf die andere warfen. Besonders hohe Wellen schossen über das Deck des Schiffes und schienen es unter sich begraben zu wollen. Immer wieder drohte das Schiff zu kentern, aber wie durch ein Wunder tanzte es sich voller Trotz durch dieses nasse Inferno.

Irgendwo schrie eine Stimme etwas. Der Wind jaulte nun in den Wanten und in der Takelage, wurde stärker und stemmte sich in die Segel. Das Schiff hob sich nun mit jeder Welle und glitt dann wieder in ein tosendes Wellental hinab, hinein in hohe Wellenkämme, die von den heftigen Windstößen zu weißem Schaum gepeitscht worden waren. Wieder hob sich der Bug hoch über die Wellen und schien fast zu fliegen.

„In die Wanten, Männer! Los! Holt die Segel ein!“ Immer wieder brüllte Kapitän Henry Russel gegen den jaulenden Wind an. „Steuer hart Backbord!“
Am Hauptmast hantierten dunkle Schatten an den Tauen, sich den unbeherrschbaren Winden und der einstürzenden Wassermassen wiedersetzend und refften das mächtige Großsegel des Schiffes.
Eine riesige Welle legte es beinahe auf die Seite. Henry wurde gegen die Wand geschleudert, konnte sich aber festhalten und das Steuer wieder erreichen. Erneut strömte Wasser über das Deck, und für einen Moment sah es so aus, als wenn ein Teil der Matrosen über Deck gespült worden waren, aber als die Gischt sich verzog, sah er sie, die Taue in den Händen haltend wieder aus den Fluten auftauchen. Er übergab Jacaran, seinem ersten Maat das Steuer, und kämpfte sich auf dem schwankenden Schiff nach unten in seine Kajüte.
Einen solchen Sturm auf See hatte er noch nie erlebt, und er fühlte sich, obwohl er schon viele Stürme auf dem Meer überstanden hatte, in diesem Moment völlig hilflos den gewaltigen Kräften der Natur ausgeliefert. Aber er vertraute auf seine Männer, die erfahren genug waren und die See kannten. Henry kämpfte sich zu seinem Arbeitstisch vor. Er dachte an Mary, seine Frau, die er immer wieder allein in Vesper zurücklassen musste, wenn der Ruf der See stärker wurde. Er zog sich auf den Stuhl und versuchte, sich gegen das jammervolle Heulen des Windes in der Takelage abzuschotten. Wieder galten seine Gedanken Mary. Wie sehr er sie liebte, und wie sehr sie doch immer unter seinen Eitelkeiten zu leiden gehabt hatte. Und er hatte es ihr nie gesagt.
Henry griff in die Schublade und holte Pergament, Tinte und Feder hervor und begann dann zu schreiben:

Allerliebste Mary!
Ich bin am Leben, aber die Luft wird hier schlecht, und mit Gott habe ich längst meinen Frieden gemacht.
Du hast mich nie gefragt, warum ich zur See gefahren bin.
Es war für die Kinder, für bessere Zeiten. Wir Männer dachten dabei an unserer Familien und fühlten uns nicht schlecht.
Bleibe in Britannia und gib den Kindern ein Zuhause. Und heirate einen anderen – bleibe nicht allein!
Oh, wie sehr ich dich liebe! Wir beide sind schwach geworden und unserer Herzen haben sehr schnell füreinander geschlagen.
Sage Vater, dass meine Seele gerettet wurde.
Nun liege ich in einem nassen Armengrab, und werde dich im Himmel wieder sehen, wo ich auf dich warten werde.
In ewiger Liebe
Henry


Er hatte es schnell mit zittrigen Händen geschrieben, ohne sich den Text noch einmal durchzulesen. Eilig rollte er das Pergament zusammen, steckte es dann in eine leere Weinflasche und verkorkte diese wieder. Dann lehnte er sich zurück. Das ständige Schlingern, der Anprall der Wogen und das Heulen des Windes vereinigten sich nach einer Weile zu einem einzigen Geräusch und wirkten hypnotisierend auf ihn. Und während er an seine Mary dachte, schlich sich der Schlaf heran und überwältigte ihn, bevor er es bemerkte.
 
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Sturmflut

Stunde um Stunde war der Wind an der Küste stärker angewachsen. Aus der lauen Brise, die sonst immer wehte, war nun ein kalter schneidender Wind geworden, der dunkelbraune Wolken überall hin jagte und bizarre Schattenspiele auf die Erde legte.
Die Frauen des kleinen Dorfes kämpften gegen die heftigen Böen an, Luken und Türen ihrer Häuser mit Brettern zu vernageln, um so ihre wenigen Habseligkeiten vor der drohenden Flut in Sicherheit zu bringen. Draußen an den Docks waren die Männer damit beschäftigt, ihre Boote zu vertäuen, Hafenmauer mit Pfählen einzurammen und mit Säcken voller Sand abzusichern.
Die Kinder und Alten hatte man schon in der kleinen Gildenhalle untergebracht und mit dem Nötigsten versorgt. Nun kämpfte sich Kalifa wieder durch den starken Wind zurück zur Taverne. Der Wind warf sie immer wieder zurück und sie brauchte eine kleine Weile, bis sie den „Blauen Ritter“ wieder erreichte. Ne’Patinor war gerade dabei, auch hier die Luken der Fenster mit Brettern zu vernageln.
„Der Sturm drückt die Fenster ein,“ seine Stimme kämpfte gegen den heulenden Wind an.
“Sag Riordan drinnen, er soll die Männer von den Docks holen. Die Frauen schaffen das nicht mehr, der Wind ist zu einfach zu stark. Und dann sollen sich alle in der Halle versammeln!“ Eine heftige Bö riss ihm dem Laden aus der Hand und knallte ihn so heftig gegen das Fenster, das ein paar der dicken Scheiben zersplitterten und das Feuer am offenen Herd in der Küche noch heftiger anfachte. Er sah noch, wie Kalifa schnell nach einem Eimer Wasser griff und das Feuer löschte, aber der Wind war bereits ins Haus gefahren und ließ die Flaschen und Gläser an der Theke durcheinanderklirren und krachte dann in die Balken.

Die Flut kam rasch näher. Ne’Patinor hielt für einen Augenblick inne und versuchte, sich zurechtzufinden. Wo war das Ufer geblieben? In der nun einsetzenden Dämmerung konnte er jetzt erkennen, das Wasser nun vom brüllenden Wind ins Landesinnere gedrückt und hart gegen die Küste geworfen wurden. Hohe vom Wind aufgepeitschte Wellen klatschten nun gegen Hafenmauer und bildeten ganze Wasserwände, die zischend von immer heftiger werdenden Böen auseinander gerissen wurden. Wasser, überall Wasser! Rasch schluckte er das Gefühl leichter Panik wieder herunter, die ihn ihm aufstieg.
Dann sah er wie Kalifa, das Haus verlassen wollte, von einer heftigen Bö erfasst wurde, auf den von Regen und Gischt aufgeweichten Boden ausrutschte, und keinen Halt mehr fand. Die Panik kam zurück. Er warf sich dann auf den Boden, robbte sich zu ihr hin und half ihr wieder auf die Beine. Hart umfasste er ihre Oberarme und schob sie dann rückwärts wieder in die Taverne zurück.
„Die Flut kommt! Nach oben! Wir müssen nach oben!“ Er packte sie mit beiden Händen kräftig an den Oberarmen und drängte sie zurück ins Haus.
„Aber die Kinder sind in der Halle – wir können sie da nicht allein lassen.“ Kalifa schrie gegen den Wind an. “Rani ist dort und wird furchtbare Angst haben.“ Fast schien es, als wollte sich die junge Wirtin wieder losreißen.
„Du kannst jetzt nichts tun!“ Ne’Patinor schüttelte sie nun heftig, um sie zur Besinnung zu bringen. „Shari und Jon sind bei Ihr, und die anderen auch! Sie sind alle in Sicherheit. Wir können jetzt nur abwarten.“
Er legt einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. Seine Augen blickten immer noch ernst und angespannt, aber seine Stimme hatte mittlerweile wieder einen ruhigen Ton angenommen:
„Der Sturm wird irgendwann nachlassen, glaub mir. Aber bis dahin wirst du mit mir hier aushalten, MyLady!“ Er grinste fast, als er sah, dass ein kleines spitzbübisches Lächeln ihre Lippen umspielte. “Du hast keine andere Chance.“
„Nun…ja…,“ kam es gedehnt, „ wir können ja die Küche hier plündern, bevor hier alles salzig schmeckt.“
„Keine schlechte Idee. Aber bevor wir das tun, sollten wir hier drinnen noch dafür sorgen, das wir keine nassen Füße hier bekommen.“
 
Spökenkieker

Es war, als sei nun alle Menschenmacht zu Ende; als müsse jetzt die Nacht, der Tod, das Nichts hereinbrechen und die Welt im ewiger Finsternis ausharren. Drei volle Tage tobte der Sturm nun und schien kein Ende zu nehmen.
In der Gildenhalle am Hafen waren die Menschen näher zusammengerückt und wärmten sich gegenseitig. Angst stand besonders den Kindern und den Alten ins Gesicht geschrieben. Aber sie wussten auch, das sie hier sicher untergebracht waren in dem stabil gebauten Steinbau, den dank der weisen Voraussicht des Baumeisters schon auf einer erhöhten Warft errichtet hatte.

In einer Ecke der Halle im zweiten Stock hatten Jon und Shari versucht, der kleinen Rani so etwas wie ein heimeliges Gefühl zu geben. Shari hatte dem Mädchen die Zeit mit kleinen Geschichten vertrieben, um ihr ein wenig die Angst zu nehmen, aber sie merkte bald, das sich noch andere Leute dazugesellten, um zuzuhören.
„So….“ sagte der alte Bleick Mochel Jacobs gerade, „ nun vertell mi dat richtich, wie dat wor domols.“
„Wie wat wor?“ kam es von der älteren Frau prompt zurück. „Weeßt, du mutt dick scho beten utdrüggen, wat ick dick vertellen soll. Ik ben jümmers kein Hellseher.“ Es klang leicht empört.
„No kumm…dat Spökenkieken kunnt u wohl, och wann du dat nich zugevst,“ lenkte der alte Bleick dann ein. „Nu, un nu sech, wie dat mit diese Waterfraue do war.“

Rani, die es sich bei Jon auf dem Schoss gemütlich gemacht hatte, hatte das Gespräch zwischen den beiden gespannt verfolgt. Ihre Augen begannen augenblicklich zu leuchten. Die Geschichten, die Shari bislang erzählt hatte, waren immer sehr schön gewesen, handelten von Prinzessinnen und Feen. Dieses würde hier wohl eine ganz andere Geschichte werden. Das Mädchen kuschelte sich tiefer in Jons Arme, was diesem ein kurzen Grunzen entlocke. Rani schielte kurz nach oben und sah dann, das Jon die Augen geschlossen hatte und schlief.
Auch Shari hatte kurz einen Blick auf ihren Mann geworden. Der alte Schmied sah es nämlich überhaupt nicht gerne, das sie diese Geschichte erzählte, aber er schien wohl tief und fest zu schlafen. Die ältere Frau beugte sich nun vor, und vergaß vor Aufregung in ihrer Mundart zu sprechen.

„Ja, ich habe sie gesehen damals, aber das ist so lange her, da war ich noch ein junges Ding.“ fing sie zu erzählen an.
„Damals – da stand ich als junge Magd in Diensten und musste immer die Schweine füttern. Da musste ich dann immer über die Wiese hinterm Haus zum Stall, und kam dann immer an der Schleuse vorbei. Die Gräben zwischen den Wiesen, die waren ja immer voll Wasser und eines Abends, als der Mond wohl besonders hell schien, da ist sie da hineingeschwommen. Die Schleuse haben sie dann schließen lassen, zurück in die See konnte sie dann nicht mehr.“
Shari blickte dann die Leute reihum an, legte dann eine andere Dramatik in ihre Stimme und untermalte ihre Erzählung nun mit erhobenen Zeigefinger.
„Ja…, habe das selbst gesehen, mit meinen eigenen Augen habe ich das gesehen. Wie sie schrie und sich mit ihren Fischhänden die Haare gerauft hat.“ Sie nickte dann kurz, als wollte sie noch mal bekräftigen, das das was sie hier erzählte auch wirklich so geschehen war und fuhr dann fort mit der Erzählung.
„Die Gräben zwischen den Wiesen, die waren so voll Wasser und es sah wie Silber aus, als der Mond drauf schien. Und sie… sie ist von einem Graben in den anderen geschwommen. Ich bin dann vor der Haustür gesessen, da lagen ein paar Balken rum, die der Herr zum bauen brauchte. Von dort konnte ich gut über die Wiesen sehen, wo das Wasserweib noch immer in den Gräben rumschwamm. Hatte ihre Arme erhoben dabei und die Hände aneinandergeschlagen, das man das Klatschen ganz weit hören konnte – das sah aus, als wenn sie beten wolle - und die Arme sahen aus wie Silber und glitzerten wie Diamanten. Aber beten, nee beten können diese Kreaturen nicht.“ Shari schwieg dann für einen Moment gedankenverloren.
„Und…. Konnte sie beten?“ Das Kind hatte ein Wort in sich aufgefangen.
„Ach Rani, Kind,“ Shari seufzte leicht, „diese Wasserfrau – das sind Undinger die nicht selig werden können. Hab sie zuletzt dann auch nicht mehr gesehen. Jedenfalls sind die Wildgänse und Möwen dann wieder mit Pfeifen und Schnattern durch die Lüfte gesegelt.“
„Nicht selig!“ wiederholte die Kleine und ein tiefer Seufzer hob die kleine Brust, so als habe sie verstanden, was Shari meinte.

„Shari’AnShar!“ kam urplötzlich eine tiefe Stimme von der Tür her, und die ältere Frau zuckte leicht erschrocken zusammen. Es war Theyde Boysen, der Hafenmeister, der dort im Rahmen gelehnt hatte und der Geschichte von dort aus zugehört hatte.
„Was redest du den Leuten hier vor? Hab ich dir nicht verboten, deine Märchen für dich zu behalten und sie nur den Fischen draußen auf See zu erzählen?“
Shari maß Theyde mit einem bösen Blick. „Das sind keine Märchen, du Krabbenkopp,“ murmelte sie dann etwas beleidigt in sich hinein, „das hat mein Großohm mir so erzählt.“
„Ach, dein Großohm hat dir das erzählt. Nun sieh einer an! Hast du nicht gesagt, du hast das alles selbst erlebt?“ warf der Hafenmeister ein.
„Willst du nun etwa meinen Großohm nun zum Lügner machen, Theyde Boysen?“ entgegnete Shari prompt, „aber du glaubst ja eh nur das, was du glauben willst.“ Schmollend, das er ihr nicht glaubte, zog sie die Decke, die ihr während des Erzählens von den Schultern gerutscht war, wieder fester an den Körper.
 
Der Teufel des Meeres (Die Legende von Davy Jones)

Der Unhold hatte einen Namen: Davy Jones. Alle Seeleute nannten ihn so, es war also kein Name, den ihm Piraten gegeben hatten. Es war der Name für den unvorstellbaren nassen Tod auf See, der diesen für einen Seemann etwas vorstellbarer machte. Davy Jones war der böse Geist des Meeres, der auf dem Grund der See auf einer Kiste saß und auf die ertrunkenen Seeleute wartete, die in den nassen Fluten umgekommen waren und sie dort ins Grab legte, wo ihre nassen Knochen die letzte Ruhe finden konnten.

Den Kindern wurde erzählt, das er dann die ganz bösen unter den Seefahrern in dieser Kiste verschloss, wo sie bis in alle Ewigkeit gefangen waren und ihre Seelen keine Ruhe fanden. Davy Jones war der Teufel des Meeres, der über all die bösen Geister der Tiefe herrschte. Und er zeigte sich auch manchmal.
Er kam, wenn es stürmte und ging, wenn es stürmte, kam in der Nacht und ging auch dann. Niemand wusste, warum er plötzlich erschien und wohin er dann ging, um dann wieder mit seiner Kiste in See zu stechen.

Und dort saß er nun - hoch oben in der Takelage in schwindelnder Höhe auf dem Querbalken am Hauptmast, der das große Segel fasste – und lachte sie alle aus. Ein Wesen mit tiefen, toten Augen und glühendem Feuerbart, den Säbel des Todes in der Hand haltend. Und er wartete – geduldig – wie er es immer tat – bis die See ihr Werk getan hatte und die Ricochet in den aufgewühlten Fluten versunken war.
 
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Wassergeister

Die Geräusche der immer noch andauernden, aber schon schwächer gewordenen Sturmböen zeigte bald auf alle Anwesenden, die in der Gildenhalle auf das Ende des wohl heftigsten Sturmes ausharrten, der wohl jemals diese Küste gestreift hatte, eine einschläfernde Wirkung. Der Raum hallte von den leisen, regelmäßigen Atemgeräuschen der Menschen wieder und wurde nur hin und wieder durch einen heftigen lauten Schnarcher von einem der Männer unterbrochen, die dann kurz aufwachten und sich, als sie eine bequemere Stellung auf den harten Boden der Halle gefunden hatten, alsbald wieder einnickten.

Nur einen gab es, der nicht so richtig Ruhe fand. Theyde Boysen wusste natürlich, das Shari’Anshar der kleinen Rani keine Märchen erzählt hatte. Er war als junger Bursche als Matrose auf einen Walfänger angefangen und dadurch viel in der Welt herumgekommen.
Geschichten, die man sich über Wassergeister erzählte, gab es nicht nur unter den Seeleuten, sondern wurden sich auch in ähnlicher Form auch von Leuten erzählt, die an großen Seen oder großen Flüssen wohnten. Man nannte sie Nixen oder Undinen, Melusine oder Rusalka, Nök oder Ekke Nekkepenn. Im Laufe der Zeit hatte er viele dieser Geschichten gehört und für sich selbst aufgeschrieben. Er dachte nach. War nun etwa die Zeit gekommen, den Bewohnern dieses kleinen Dorfes hier davon zu erzählen?

Seine Gedanken wanderten wieder in die Vergangenheit. Lange war es her, als der Walfänger, auf den er damals angeheuert hatte, in einer Sturmnacht auf dem offenen Meer Schiffsbruch erlitt und er wie durch ein Wunder damals als einziger die Katastrophe überlebt hatte.

Er lehnte sich bequemer an die Wand, verschränkte die Hände vor der Brust und überkreuzte die Beine einander. Sein Atem wurde nun ruhiger, den Blick direkt in das prasselnde Feuer der Kohlenpfanne gerichtet bis die schwelende Glut zu einem tiefen blauen Traum wurde…und er fiel, sehr tief und sehr langsam nach unten fiel er, bis er sich plötzlich getragen fühlte. Hoch über ihn funkelte ein Lichtkreis, der langsam immer näher kam. Es schien ihm wie eine Ewigkeit – und er hatte sich schon mit dem Tod abgefunden, wenn dieser so schön war – so leicht und schwerelos – so friedlich.

Als Theyde wieder erwacht war, hatte er an einem Sandstrand gelegen, geweckt durch ein lautes Klatschgeräusch im Wasser – ähnlich dem eines springenden Wales. Durch die Sonne geblendet hatte er sich dann aufgerichtet, um nach der Ursache des Geräusches zu sehen. Aber alles was er sah, waren ein paar Delphine, die ihre Kapriolen auf dem Wasser machten – und dann waren da diese hellen Streifen im Wasser … oder war das nur der Reflex der Sonne, die sich auf der Oberfläche spiegelte?

Theyde hatte sich dann umgesehen. Hinter dem Strand begann der tropische Dschungel von Sosaria Süden. Er beschloss dann, weiter nach Osten in das nächstbeste Dorf zu gehen, das er dann auch bald fand, baute sich dort ein kleines Häuschen am Hafen und ließ sich dort nieder.
Bis heute konnte er sich nicht erklären, wie er damals an diesen Strand gekommen war, war doch das Schiff mitten auf dem Ozean zu Bruch gegangen. Aber er hörte seitdem diese Stimmen, die nach ihm riefen. Immer wieder war er seitdem an diesen Strand zurückgekehrt, und eines Tages, als er in einer hellen Vollmondnacht wieder an diesem Strand entlang ging, sah er sie dann. Sie spielten mit ihren Delphinen und miteinander, tanzten mit den Wellen um die Wette und lachten fröhlich. Wunderschön waren sie – fast den Elfen gleich. Zierliche schlanke Wesen, dessen Haut im Mondlicht silbern und grünlich schimmerte, mit eben solchen langen Haaren, die bis auf die Hüfte reichten.
Verborgen im Dickicht des Dschungels hatte Theyde den Jungfern ihren Treiben bis zum Anbruch des Tages mitangesehen. Als das erste Strahl der Sonne die Oberfläche des Meeres streifte und sich seinen Weg über das Wasser in Richtung Land suchte, liefen die Mädchen hinein in die sanften Wellen, schwammen noch eine Weile mit den Köpfen über den Wasser und tauchten dann, halb Frau halb Fisch hinab in die Tiefen des Ozeanes.

Theyde war seltsam berührt gewesen. Auch er hatte bis dahin immer angenommen, das die Geschichten über Meerjungfrauen bisher immer nur Seemansgarn gewesen sein. Aber hier – vor seinen eigenen Augen – hatte sich es sich abgespielt. Theyde wusste nun, das dieses Ereignis sein Leben fortan bestimmte, denn sein Herz war nun mit einer schier unerfüllbaren Sehnsucht ergriffen. Er beschloss damals ein einfacher Fischer zu werden.

Die Jahre gingen dahin, ohne das er je wieder etwas von ihnen gesehen hatte. Aber eines Tages, an einem besonders schönen Tag – er war draußen auf dem Meer, um Heringe zu fangen, war das Netz besonders schwer gewesen.
Eine junge Meerjungfrau war neugierig gewesen und hatte sich dann in seinem Netz verheddert. Ihr Name war Siadin, und Theyde hatte sie dann sanft daraus befreit und sie wieder ins Meer zurückgelassen. Siadin war dann immer wieder aus Dankbarkeit wieder zurückgekehrt und hatte ihm Geschichten erzählt – über ihr Volk, von dem Palast ihres Vaters, dem Meerkönig, von den Bewohnern des Meeres und noch vieles mehr.
Theyde hatte diese Geschichten im seinen Herzen verwahrt und dann eines Tages aufgeschrieben.

Er lächelte leicht und öffnete die Augen wieder. Niemand im Dorf wusste um dieses Geheimnis, aber es kursierten natürlich die dollsten Gerüchte, wenn er wieder für ein paar Tage verschwand, um nach ihr zu sehen. Theyde Boysen war nun alt geworden im Laufe der Jahre. Zur See fuhr er schon lange nicht mehr, und wenn er nun die Angel auswarf, um Fische zu fangen, setzte er sich dafür mit einem Stuhl auf die Stege der Docks im Hafen, den Blick auf das Meer gerichtet und mit einem Lächeln auf dem Lippen. Aber sobald sich dieser Sturm hier gelegt hatte, würde er sie wiedersehen.
 
Dauerregen

Das Heulen der windigen Böen, die um den Blauen Ritter pfiffen, hatte nun merklich nachgelassen und war einem andauernden Regen gewichen, der nun vom Himmel fiel und einen dichten Vorhang aus Wassertropfen bildete. Drinnen in der Taverne stand ein breitschultriger, hochgewachsener Mann am Fenster und blickte hinaus.
„Wasserwelt“, murmelte Ne’Patinor leise, „und wir sitzen in einer Arche, die nicht mal schwimmen kann.“ Wieder blickte er den langen dicken Tropfen nach, die das Wasser in den großen Pfützen am Boden zu kleinen Kratern aufwarf.
„Dafür ist diese Arche warm und trocken – und es ist noch reichlich zu essen da.“ Kalifa hatte sich neben ihm gestellt und blickte nun ebenfalls aus dem Fenster. „Oder hast du etwa Langeweile?“ Sie betrachtete ihn. Er sah verwegen aus mit diesen kleinen verschnörkelten Tätowierungen auf der Stirn und um die Augen herum. Die langen schwarzen Haare trug er offen, nur etwas gebändigt durch ein schmutziges rotes Tuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte. Wie alle Seefahrer war er braungebrannt und hatte sich einen kecken Kinnbart zugelegt, den er sorgfältig pflegte. Seine übrige Kleidung war zweckmäßig – eine Hose aus Hirschleder, ein weißes Leinenhemd, das nur locker vor der Brust verschnürt war und einen Blick auf ein rundes Medaillon mit keltischem Muster gewährte, und braune Stiefel, die bis über die Knie reichten. An der Seite hing ein Säbel aus Silber in einer langen roten Schärpe, die er sich um die Hüfte gebunden hatte, und im linken Ohr steckte ein silberner Ohrring.

Nein, Ne’Patinor war kein Mann, den es lange an einem Ort hielt. Er war einer dieser Männer, die ständig neue Herausforderungen an sich und das Leben stellten – immer auf der Suche nach neuen Abenteuern. Umso erstaunlicher war nun, dass dieser gut aussehende Kerl es nun schon fast eine ganze Woche lange hier in der Taverne mit ihr zusammen aushielt.
„Immerhin hat der Sturm nachgelassen, und den Regen werden wir auch noch überleben. Ich denke, in ein oder zwei Tagen können wir uns hier rauswagen. Langeweile wirst du dann keine mehr haben, denke ich, bei all den Sturmschäden die wir reparieren müssen“ entgegnete sie ihm trocken. „Was mir mehr Sorgen macht, ist, dass wir kein Tran mehr für die Lampen haben. Und Kerzen sind auch nicht mehr viele da.“ Sie seufzte leise. „Ich bin wieder in der Küche, wenn du mich suchst!“
„Hee…“ kam es empört hinterher, „Ich bin Walfänger und kein Zimmermann!“ „Unsinn…“ Kalifa steckte kurz den Kopf aus der Küche und lachte. „Wer Wale abflensen kann, der kann auch einen Balken anheben!“ Sprach’s und machte sich wieder in der Küche daran, einen Eintopf zu kochen.
 
Schiffsbruch Teil 1 – Der Untergang der Ricochet

Das Schiff wurde zum Spielball der schäumenden Wellen. Der Wind krachte in die Takelage und riss an solange an den Masten, bis diese ihren Widerstand aufgaben, umknickten und mit voller Wucht auf das Schiffsdeck krachten. Immer wieder überspülten nun hohe Wellen das Deck und legten die Ricochet nun auf die Seite. Durch die Löcher, die die schweren Kanonen in den Rumpf gerissen hatten, drang schnell Wasser ein und drückte die Ladung nach draußen. Alles was nun nicht mehr nagelfest war, wurde durcheinander geworfen, und jeder, der sich noch den unteren Kajüten befunden hatte, war nun unweigerlich verloren und starb fast sofort durch Ertrinken.
Andere, die das vage Glück gehabt hatten, an Deck gewesen zu sein, wurden durch die enorme Wucht des starken Wellengangs auf den rutschigen Planken hin- und her geworfen und schon bald von Bord gespült. Auch Jacaran, der sich verzweifelt am Geländer oben auf der Brücke festgekrallt hatte, fand bald keinen Halt mehr am glitschigen Holz und rutschte ab, als sich das Schiff langsam aufzurichten begann.

Ein Moment der Stille umgab ihn, als er mit einem heftigen Schwung im kalten Meerwasser landete. Der kurze Schock, den die Kälte verursachte, machte ihn leicht benommen und bewegungslos, dann aber registrierte er, wo er sich befand, und sein Überlebenswille setzte ein. Dort oben war das, was er dringend brauchte – Luft zum Atmen. Jacaran drehte sich um die eigene Achse und schwamm nach oben. Mit einem Japser tauchte er dann auf und blickte sich um. In der Nähe schwammen einige Planken und Fässer. Er bot alle verbliebene Kraft auf, schwamm die Planken an, die er bald erreichte und zog sich mit letzten Kräften auf den dicken Balken, der diese noch verband.
Ein lautes Geräusch zerriss plötzlich die Luft. Durch die ständige Überspülung der hohen Wellen hatte sich im Rumpf der Ricochet unaufhaltsam Wasser gesammelt. Das so überlastig gewordene Schiff stellte sich nun auf und verharrte zitternd einen Augenblick in dieser Stellung. Dann versank es, sich erst langsam dann immer schneller um die eigene Achse drehend im lauten Gejaule in den Fluten eines riesigen Mahlstromes.

Das Schiff war verschwunden – der Sturm und das Meer hatten Davy Jones erneut Tribut gezollt. Captain Henry Russel und seine Crew gab es nicht mehr – nur er war noch übrig. Jacaran klammerte sich noch fester an die dahintreibenden Planken. Er war nun allein auf diesen unendlichen Wassern, die sich nun langsam wieder beruhigten. In welcher Richtung die nächste Küste lag, wusste er nicht. Er konnte nur beten – und hoffen, dass ihn die Wellen bald an Land spülen würden.
 
Master and Commander

Ein paar Seemeilen vor Serpents Hold war die „Silver Sirene“, ein Walfischfänger hart am Sturm vorbei gesegelt. Nun trieb eine leichte Brise das Schiff weiter nach Norden in Richtung Heimathafen, der für die Männer in Britain lag. Sie würden die Wintermonate dort verbringen, um dann wieder zu Beginn des Frühjahrs nach Süden und Westen nach den besten Jagdgründen für den Fang wieder auszulaufen.
Das Schiff war durch den Sturm arg mitgenommen worden und die etwa zwanzig Mann starke Besatzung ging ihrer Arbeit nach. Segel, die gerissen waren wurden ausgebessert. Einige der Seeleute kletterten in den Masten herum und prüften die Funktionstüchtigkeit des Takelwerks. Andere wieder waren damit beschäftigt, die Eisen und Lanzen für den Walfang instand zu setzen und rostfrei zu halten. Der Böttcher werkelte an den Fässern herum, die dann gleich für einen eventuellen Fang bereit standen.

An der Backbordseite waren Fitsch, der Schiffszimmermann und Kunsch, ein älterer Matrose damit beschäftigt, die Beiboote an den morschen Stellen auszubessern und neue Holzbohlen einzuziehen.
„Nu halt dat ma fest, Kunsch, dat ich den Nagel inschlagen kunnt“ Es klang sehr ungeduldig. Fitsch richtete sich kurz auf und schaute Kunsch durchdringlich an.
„Un wenn i segg, du hält die Bohle fest, dann meen i net de Buddel Rum, di da in deen Bund stecket. De Alde weer di no ma kielholen.“
„Wejen dem büsschen Schnaps? Dat meenste net wirklich!“ sagte Kunsch. „De Lagerraum is vull davun, dat fallt gor net up, wenn da een Troppen fehlt.“
Fitsch blickte seinen Kumpel mit einem tiefen Seufzer an: „Nee, de Troppen wohl net, de fallt net af, aver du scho!“.

Weiter unten stand Kapitän Gavin MacDaragh am offenen Fenster seine Kajüte, stützte die Hände am Fenstersims ab und hörte belustigt dem Gespräch zu. Es tat gut zu wissen, das die Männer trotzdem ihrer Arbeit nachgingen. Monatelang waren sie nun vergeblich auf dem Meer auf der Suche nach dem großen Säuger gewesen. MacDaragh konnte es seinen Männern nicht verdenken, das die Männer ein wenig lustlos ihr Tagewerk verrichteten und sich nach der Jagd sehnten. Er sog die salzige Luft tief in seine Lungen und atmete mit einem entschlossenen Seufzen wieder aus.

Als Kapitän dieses Schiffes war er in erster Linie für die Mannschaft und die Ladung an Bord verantwortlich. Es hatte Kapitäne gegeben, die aufgrund ihrer Machtposition an Bord eines Schiffes dafür gesorgt hatten, das sich in den Köpfen der Menschen die Vorstellung von erbarmungslosen Menschenschindern eingebrannt hatte, der seine Mannschaft drangsalierte und sie durch Bestrafung gefügig machte. Ja, er – Gavin MacDaragh hielt sich für einen verantwortungsvollen Kapitän und ließ seiner Mannschaft keinen Augenblick spüren, dass er sich nicht um sie sorgte. Er wusste, das seine Männer ihm vertrauten, und er konnte dasselbe von ihnen sagen.
Trotzdem würde er jetzt ein ernstes Wort sprechen müssen. Denn nach den vielen Monaten auf See gingen die Vorräte unten im Laderaum langsam, aber sicher zur Neige. Langsam drehte er sich um und blickte auf die beiden Männer, die an einem großen Tisch in der Kajüte saßen und einige Listen studierten.
„Wenn alles gut geht und wir bald Serpents erreichen, wird der Proviant noch schätzungsweise zwei Wochen reichen“ sagte Abham, der Schiffskoch gerade.
„Wie viele Vorräte haben wir denn noch, Abham?“ Nathan O’Cole schaute ernst und nachdenklich drein.
„Wir haben noch harten Zwieback, einige Säcke mit Reis und Bohnen, gepökeltes Fleisch, einige Fässer mit Sauerkraut. Wein, Bier und Rum ist genug da, noch einige Fässer und auch einige Fässer mit Wasser. Einen Teil mussten wir ins Meer kippen, ist schlecht geworden, hat zu viel Meerwasser geschluckt. Einen Teil des Zwiebacks haben die Maden zerkrümelt. Aber für ein paar Tagesrationen reicht das noch.“
„Gut.“ Der erste Offizier an Deck O’Cole stand auf und ging dann hinüber zu dem großen Kartentisch. Kapitän MacDaragh stellte sich neben ihn. Nathan legte einen Finger auf die Karte.
„Unsere Position ist ziemlich genau hier. Serpents liegt in nordwestlicher Richtung.“ Er griff nach Lineal und Zirkel und zog einige Linien über die Karte. Nach einer kleinen Weile hatte er den Kurs berechnet, den die „Silver Sirene“ in Richtung Serpents Hold nehmen würde.
„Wenn der Wind so bleibt, sind wir in schätzungsweise einer Woche dort.“ Kapitän MacDaragh nickte kurz.
„Gut Nathan. Danke. Ruf die Männer jetzt zusammen. Ab jetzt dulde ich keine Extrawürste mehr. Schwierige Situationen erfordern klare Regeln an Bord. Ich erwarte von nun an, dass alle – uns eingeschlossen – an einen Strang ziehen. Es gilt, Leib und Leben der gesamten Besatzung zu sichern und das Schiff heil aus dieser schwierigen Lage zu manövrieren. Wegtreten!“

Kapitän MacDaragh blickte den beiden nach, bis sie seine Kajüte verlassen hatten. Dann atmete er kurz durch, zog sich seine Uniformjacke an, nahm im Hinausgehen seinen Hut vom Haken, setzte ihn sich auf den Kopf und ging nach oben. Eine Woche Zeit mit knappem Proviant. Das letzte was er sich hier an Bord wünschte, waren Meuterei und Widerstand. Wenn es zu solchen Auseinandersetzungen zwischen der Besatzung und ihm komme sollte, würde er von seinem Recht Gebrauch machen, die Disziplin an Bord wieder herzustellen… notfalls auch mit Gewalt.

Entschlossen schritt er den Gang entlang, eilte die Treppe hinauf, stieß die Tür am Ende der Treppe auf und betrat das Deck. Er wollte gerade anfangen, seine Mannschaft über die Lage aufzuklären, als plötzlich jedermann ein Klopfen hörte…
 
Klabautermänner und andere Poltergeister

Der Sturm hatte sich gelegt und auch der über Tage andauernde Regen, der dann folgte, hatte nun endlich nachgelassen. Überall in Westcliff hatte man jetzt mit den Aufräumarbeiten begonnen. Die Sturmschäden an den Häusern wurden repariert, die Docks am Hafen von Schlick und Schlamm befreit und die Küste von allem Unrat beseitigt, den das Meer ans Ufer gespült hatte.

Es war ein schöner Nachmittag, die Sonne stand noch warm am Himmel, und Theyde Boysen beschloss, der Fischräucherei seines Freundes Bleick Mochel Jacobs einen Besuch abzustatten. Bleick machte den besten Räucherfisch, den er je gegessen hatte, und er hatte jetzt Hunger auf geräucherten Seeaal. Er trat vor die Tür seiner kleinen Hafenmeisterei und macht sich am Ufer entlang auf den Weg zur Räucherei hinüber.
Ein würziger Geruch von Algen und Seetang lag in der Luft, und dort wo das Wasser noch nicht ganz abgeflossen war und kleine Tümpel bildete, versammelten sich Scharen von Möwen, die dort nach Muscheln und Schlickwürmern suchten und die Luft mit ihrem Gekreische erfüllten. Aus der brüllenden See, die vor ein paar Tagen noch gegen die Küste gedonnert war, war nun ein sanftes Wellenspiel geworden, das mit einem pulsierenden Rauschen am seichten Ufer auslief.
Theyde genoss diesen Spaziergang. Nach einigen Minuten hatte er die Räucherei erreicht und gesellte sich zu Shari, die in den Verkaufsständen der Räucherei aufräumte und mit einem Besen ordentlich die Pflasterung schrubbte. Vor dem Haus saß die kleine Rani auf einer Bank und spielte mit einer hölzernen Schnitzfigur.
„Na Theyde, wat maket do hier? Wutte mithelpen or hebbet Smacht uppen smucken Fisch? Kennt man ja gor net, dat du ut dien staubigen Aktenlager kreuchst.“ Die ältere Frau schaute nicht mal auf, sondern schrubbte nun um Theydes Beine herum, der sich mittlerweile auf den einzigen Stuhl gesetzt hatte, den der Sturm noch heile gelassen hatte.
„Wat los? Hebbet di Spraak henslaan? De lütte Marringa hat hüüt Seeaal gefangen, de hang al in de Räucherkammer af. Dat duert noch een halve Stunn.“
„Dann wart ich hier solange“ brummelte Theyde zurück. „Aber wenn du nett bist, dann bringst mir mal steifen Grog und eine Butterstulle mit Hering. Weißt ja, wer hart arbeitet muss sich Leib und Seele zusammenhalten.“
„Hering…. Mutt ik mol kieken, ob da wat is – un ob noch Bodder do is un Broot.“ Shari richtete sich kurz auf, streckte ihren Rücken kurz durch und lehnte den Schrubber an die Hauswand. Dann machte sie sich ins Innere der kleinen Fischtaverne, wo man es bald kräftig poltern und fluchen hörte. Theyde zuckte erschrocken zusammen, und auch die kleine Rani schaute ihn erschrocken an.
„Herr Gott, die Frau macht Krach für zwei Klaubautermänner“, entfuhr es ihm und seufzte etwas. Rani war nun neugierig etwas näher gekommen und schaute den Hafenmeister aus fragenden Augen an:
„Klabautermann? Was ist ein Klabautermann, Onkel Theyde?“ fragte sie neugierig.
„Oh – der Klaubautermann…“ Er schien kurz zu überlegen, dann zog er das kleine Mädchen auf seinen Schoß und begann zu erzählen.

„Also…der Klabautermann ist ein kleiner Kobold, ein guter Geist, der meistens auf einen Schiff wohnt. Manchmal wohnt er auch an Land, aber das ist wohl eher selten. Er mag es Schabernack zu treiben. Und wie alle Kobolde kann er natürlich auch ein paar Sachen, die andere nicht können – so weiß er zum Beispiel genau, wann ein Sturm droht oder wenn ein Schiff untergeht und warnt dann alle an Bord. Wenn es ganz schlimm kommt, und er weiß dass das Schiff sinkt, warnt er vorher den Kapitän und alle anderen und verlässt dann das Schiff. Deshalb haben auch alle Seeleute Angst, wenn er das tut... Aber er hilft auch da, wo der Kapitän und seine Mannschaft aufrichtig sind und fleißig und bleibt dann. Dann sorgt er dort auf dem Schiff für Ordnung und man hört ihn dann, wenn er im Laderaum rumpoltert….“
„So wie Shari eben“ warf das Mädchen ein, das gebannt zugehört hatte.
„Ja… so wie Shari“ nickt Theyde leicht und fuhr dann fort zu erzählen. „Im Laderaum hört man ihn ganz oft poltern. Dort sorgt er für Ordnung und auch dafür, das nicht alles durch die Gegend fliegt und auch das der Rumpf nicht undicht wird und leckt. Immer wieder klopft er dort mit einem besonderen Hammer, seinen Kalfathammer die Holzwände ab, und wenn er dann eine undichte oder faule Stelle im Rumpf findet, klopft er so laut, das es dann auch der Schiffszimmermann hören muss. Mit seinen Kalfathammer macht er aber noch etwas – er verschließt damit auch die undichten Ritzen zwischen den Planken, die er findet. Das macht er ganz von sich aus. Aber wenn er aufhört zu klopfen, dann weiß jeder dass er das Schiff verlassen und sich ein neues Schiff gesucht hat. Dann steht es sehr schlecht um das verlassene Schiff. Aber wenn das Schiff einen guten Kapitän hat, kann es durchaus sein, das der Klabautermann mit ihm geht.“

Rani saß einen Moment still da und schien über das Erzählte nachzudenken. Dann schaute sie Theyde wieder an:
„Dann ist es doch gut, wenn jedes Schiff so einen Kobold hat. Das ist dann wie ein guter Freund. Oder wie ein Engel, der auf jemanden aufpasst.“ Theyde lächelte sanft.
„Ja“, nickte er, „ wie ein Engel.“ Nachdenklich blickte er auf das von der Sonne nun golden angestrahlte Meer.

Gesehen hatten den Klabautermann kaum jemand, denn so schnell, wie er sich zeigte, verschwand er auch wieder. Deshalb glaubten einige nur, ihn schon mal gesehen zu haben. Und die, die ihn tatsächlich schon gesehen hatten, wollten es dann nicht wahrhaben oder gaben es nicht zu. Hier an der Küste lies sich kein Bewohner und kein Seemann gerne nachsagen, er würde Seemanngarn spinnen. Aber es wurde dennoch viel Seemannsgarn gesponnen. Die Seefahrer brachten viele Erzählungen mit, die die Leute nicht glaubten und die sich dann schließlich doch bewahrheiteten. Erzählungen über Seeungeheuer wie Riesenkraken oder Schiffsfriedhöfe im offenen Meer, oder das Schiffe einfach verschwanden. Berichte über riesige Wellen, die aus dem Nichts kamen und dann ganze Schiffe zerstören konnten. Man nahm diese Erzählungen nicht ernst. Aber Theyde Boysen wusste, dass sie alle wahr waren. Er verurteilte deshalb niemanden, der ihm erzählte, er habe den Klabautermann gesehen.

Shari hatte den letzten Teil seiner Erzählung noch gehört und stand nun hinter ihm. Sie stellte den Grog auf den Tisch und eine in Zeitungspapier gepackte Stulle mit eingelegtem Hering. Auch sie wirkte etwas nachdenklich und nickte dann den Hafenmeister verständnisvoll zu, als er sie ansah. Sie hob die kleine Rani von Theydes Schoss und nahm sie dann auf den Arm.
„So min seutes Deern, ick bring di mo to huus, sonst giev dat Ärger mit dien Modder. Ist ja auch schon spät geworden.“
Sie hatte die Räucherei bereits abgeschlossen und machte sich dann mit Rani aufden Weg nach Hause.

Theyde saß noch eine ganze Weile dort und blickte auf das dunkler werdende Meer hinaus. Still war es nun geworden, und über den Hafen lag eine seltsame Ruhe. Die Planken der Schiffe, die im Hafen lagen, knarrten und knirrschten, das Holz ächzte leicht, wenn das Schiff auf den Wellen schaukelte, und das Rumpeln und Rumoren des leichten Windes, der durch die Masten der Boote pfiff. Und er hörte es deutlich: ein Poltern und Klopfen.
 
Die Hölle auf See

Die Männer auf der „Silver Sirene“ waren schlagartig verstummt und horchten nun angestrengt, aus welcher Richtung das Klopfen gekommen war. Die Stille an Bord war gespenstisch, nur der Atem seines Kameraden war zu hören, der neben einem stand.
Da! Es klopfte wieder- einmal, zweimal, dann eine kurze Pause, dann zweimal schnell hintereinander, mal lauter und leiser. Und es wiederholte sich.

„Hört ihr das? Hört ihr das auch?“ fragte Samuel aufgeregt und lauschte weiter angestrengt. „Da! Da war es wieder! Das kommt von unten.“ Aufgeregt zeigte Samuel dann in Richtung des Laderaums.
„Hört ihr? Von dort kommt es, ganz sicher!“
„Blödsinn, Sammy!“ entgegnete LaFayette, ein groß gewachsener Walfischfänger aus Schwarz-Afrika. „Hör doch mal genau hin, das sind die Flaschenzüge oben in der Takelage, die an die Balken schlagen und verpasste dem neujährigen Negerjungen eine leichte Kopfnuss.
„Du liegst echt zu lange auf der faulen Haut Samuel“ sagte Tonollo, ein drahtiger, mittelgroßer Harpunier und grinste.
„Wer weiß, was du da noch alles so hörst und siehst, Blackboy! Würde mich nicht wundern, wenn das Kunsch und Fitsch sind, die den Laderaum abdichten.“
„Aye, Matey“, kam es sofort trocken von LaFayette zurück. „Kunsch poltert wieder zwischen den Rumfässern, und Fitsch haut ihn dabei mit dem Hammer auf die Finger und sichert den letzten Rest Schnaps vor Kunschens Gelüsten.“ Ein Sturm der Erheiterung ging durch die Männer. Tonollo entfuhr ein kehliges Grunzen:
„ Arrrrr, genau! Kunsch spielt Klabautermann, stapelt da unten um, und Fitsch geht hinterher und repariert‘s wieder – so war das schon immer, und so bleibt das bis Davey Jones ihn eines Tages holen wird.“
„Und du liegst eindeutig zu viel in der Sonne im Bugsegel. Wie drall war deine Meerjungfrau denn dieses Mal, Tonollo?“
Eine laute Stimme tönte plötzlich von hinten über die versammelten Männer hinweg. Fitsch, der weiter hinten in der Menge auf dem Deck auf einer Treppe gesessen hatte, bahnte sich nun einen Weg durch die Menge.
„Du erzählst wie immer eine Menge Blödsinn. Sonst hättest du dich vorher mal umgesehen und bemerkt, das wir beide die ganze Zeit am Beiboot gestanden haben.“ Tonollo verzog wütend das Gesicht und wollte schon auf den Schiffzimmermann losgehen, als ein lauter, sehr bestimmt klingender Ruf über die Köpfe der Besatzung hinweg ging.
„Ruheeee Männer!!! Sofort ist hier Ruhe!“ Kapitän MacDaragh stand oben auf der Brüstung am Geländer und war leicht rot vor Ärger angelaufen.
„Noch einmal für alle – ich dulde hier keinen Streit.“

Die Atmosphäre zwischen den Männern war geladen und entspannte sich nur langsam. Kapitän MacDaragh runzelte immer noch ärgerlich die Stirn und wechselte einen kurzen Blick mit seinem ersten Maat Nathan O’Cole. Er dachte kurz nach. Nein, es waren nicht die häufigen Stürme oder Gefahren, denen sie in ihren langen Reisen auf dem Meer ausgesetzt waren, worauf die Besatzung gereizt reagierte. Das Sterben gehörte zum Alltag auf See, Matrosen verloren schon mal den Halt oben in den Masten der Takelage und stürzten dann auf das Deck oder über Bord und ertranken. Nein, es war diese Enge auf dem Schiff, die so manchen der Männer hier in den Wahnsinn trieb, der sie nicht gewohnt war. Und der Frust, dass sie noch immer keinen guten Fang gemacht hatten.

Die Crew der "Silver Sirene" war zu lange unterwegs gewesen. Einige waren nun schon fast drei Jahre von Frau und Kindern fort. Die Stimmung an Bord war langsam und stetig hochgekocht und stand kurz vor der Explosion, die irgendwann hochgehen würde wie ein Pulverfass.
Das Leben an Deck war für die Männer oft die Hölle. MacDaragh wusste, dass die hygienischen Verhältnisse an Bord für alle hier oft unzumutbar waren. Der Raum unter Deck, wo die Männer schliefen, war bis ins letzte Eck gefüllt. Es roch stark nach Fäulnis und Moder, und es war zudem unerträglich stickig und feucht. Die Zwischendecks, in denen die Kojen der Männer lagen, stanken nach Schweiß und Urin, und waren oft genug mit ihren Fäkalien und Erbrochenen verdreckt. Die Kojen selbst waren nur kurze Bretter, von denen es zu wenige gab und die keiner benutzte, es sei denn als Ablage irgendwelchen Zeugs. Zwischen den Pfeilern hatten die Männer einfache Hängematten aufgehängt, da sich unter den Brettern des Decks die Ratten tummelten. Dutzende von dicken, fetten Seeratten! Der alte Kater, den man in Nujelm mit an Bord genommen hatte, hatte sich irgendwann mit den Biestern vollgefressen und war an Fettsucht verreckt. Das Wasser faulte schnell in den undichten Fässern und schmeckte brackig, und im Pökelfleisch tummelten sich schnell die Maden, da man es hier nicht kühlen konnte. Irgendwann würden die Männer anfangen, die Ratten zum Mittag zu verspeisen, weil es auch der letzte Rest an Lebensmitteln, die man an Bord geladen hatte, verfault war und stank, Hauptsache, der Magen war gefüllt. Ratten schmeckten wie Katzen. Da sie gerade in tropischen Gefilden herumschipperten, wo es nachts warm war, hatte Kapitän MacDaragh ihnen erlaubt, an Deck zu schlafen. Hier war wenigstens die Luft zum Atmen besser.

MacDaragh räusperte sich kurz und straffte sich dann. Er biss die Backenzähne hart aufeinander und schluckte seinen Zorn durch ein leichtes Mahlen der Kiefer langsam herunter. Dann begann er zu sprechen:
„Männer…“sein Blick ging über die an Deck versammelten Seeleute, „ Männer, ich weiß wir machen gerade eine schwere Zeit durch. Der Wal versteckt sich gut in den Weiten der Meere, und ich weiß, ihr seid alle enttäuscht, dass ihr keine Gelegenheit zur Jagd habt, wegen der ihr hauptsächlich hier seid. Ich weiß auch, dass ihr das Geld braucht, das wir mit dem Fang einbringen werden, weil es das Leben euer Familien – Frauen und Kinder sichert, die seit Jahren auf euch warten. Einige von euch haben ihre Söhne noch nicht einmal gesehen. Ihr habt hiermit mein Versprechen, das ich – sobald wir in Britain sind und ich vom König meinen Sold erhalte, diesen mit euch teilen werden – es wird keiner leer ausgehen, und wenn ich mein letztes Hemd für euch hergebe.“
Wieder ging sein Blick durch die Reihen. Die Männer waren nun ruhig geworden und schauten ihn erwartungsvoll an. Gavin MacDaragh war tatsächlich für die meisten ein guter Kapitän, und es lag keinem daran, diesen fast väterlich wirkenden Vorgesetzten zu enttäuschen. Betretenes Schweigen lag auf dem Deck, als der Kapitän nun weitersprach.
„Durch den Sturm wurden auch unsere Lebensmittel stark dezimiert und verdorben. Das bedeutet, wir haben nur noch Proviant und Wasser für etwa zwei Wochen. Unser erster Maat hier“ MacDaragh zeigte auf O’Cole, „ist sich sicher, dass wir die Insel Serpents Hold in etwa einer Woche erreichen und neuen Proviant dort laden können, wenn wir diesen Kurs hier beibehalten. Ich erwarte also, dass jeder auf seinen Posten ist und seinen Aufgaben nachgeht. Die Rationen werden vorläufig halbiert, und es gibt auch vorläufig keinen Alkohol. Da unsere Seekasse hier leer ist, müssen wir diesen in Serpents verkaufen. Das wäre dann alles Männer! Hat noch jemand etwa zu sagen?“

Die meisten wirkten betroffen über soviel Offenheit. Niemand hatte die Lage so ernst eingeschätzt. Schweigen machte sich breit - niemand sagte etwas.
„Gut, das wäre dann alles. Geht jetzt auf Eure Posten!“ Aufrecht stand der Kapitän der „Silver Sirene“ nun da, schürzte die Lippen und blickte in die zwar ängstlichen, aber auch zuversichtlichen Gesichter seiner Leute. Nein, sie würden ihn nicht enttäuschen, denn er hatte es auch nicht getan.

In diesem Moment fing das Klopfen und Poltern wieder an. Eine ganze Weile hatte niemand etwas gehört. Nun wurde es langsam unheimlich. MacDaragh seufzte leise und rief die Männer noch mal zurück.
„Ach und noch was…. Findet heraus, woher das Klopfen kommt“. Es war wirklich Zeit der Sache auf dem Grund zu gehen!
 
Die Termiten der Meere (Schiffsbohrwürmer)

Zwei Tage, nach dem der Regen über Westcliff aufgehört hatte, war nun auch der Keller der Taverne wieder betretbar. Fässer mit Wein, Bier, Sauerkraut und eingelegten Heringen waren gut verschlossen gewesen und hatten dicht gehalten. Viel schlimmer stand es um das Getreide, das in Säcken aufbewahrt wurde, es war feucht geworden, wurde teilweise schon schimmelig und hatte bereits angefangen zu keimen. Mehl, Zucker und Gewürze, die ebenfalls in Säcken aufbewahrt wurden, waren ebenfalls unbrauchbar geworden und musste nun dringend ersetzt werden. Kalifa stand mit Theydes Tochter Gyde Boysen in der kleinen Küche und beratschlagte mit ihrer Köchin, was zur Erhaltung des Betriebes noch dringend benötigt wurde.
„Die Wirtskasse ist ziemlich leer. Das Geld reicht gerade noch für ein paar Säcke Getreide,“ sagte Kalifa nachdenklich und seufzte.
„Der Hering ist zum Glück noch gut, den könnten wir zusammen mit Pellkartoffeln verkaufen. Das belastet die Wirtskasse nicht unnötig, schmeckt den Leuten und sie werden satt davon.“ Sie kalkulierte in Gedanken kurz durch und sagte nach einem kurzen Moment:
„Ich denke, wir brauchen so drei bis vier Säcke Kartoffeln, die müssten die Woche erst einmal reichen. Was meinst du Gyde, könnte dein Verlobter wohl noch was im Kontor gelagert haben? Sonst reite ich kurzerhand nach Skara Brae, und versuchen, ob ich an den Farmen dort noch was bekomme.“
„Könnte gut möglich sein, das Reent noch was in seinen Lagern hat.“ Gyde war unterdessen, gefolgt von Kalifa, schon zur Tür gegangen und war in den Schankraum des Blauen Ritters getreten.
„Er kennt ja genug Händler als Kontor Meister. Ich meine mich zu erinnern, das sogar einige Tage vor dem Sturm hier ein kleineres Handelsschiff Halt gemacht hat, das mit Getreide, Kartoffeln und anderem Gemüse beladen war. Reent wird die Lager im Kontor sicher damit aufgestockt haben, wenn er solche Waren günstig abkaufen kann. Ich werde mal hingehen und nachfragen.“
Während Kalifa sich hinter den Tresen stellte, um zusammen mit Aileen die letzten schmutzigen Gläser abzuspülen und die Barbestände wieder aufzufrischen, machte Gyde sich eilig auf, das kleine Kontor aufzusuchen, wo ihr Verlobter Reent van Thaden für ihr beider Dasein arbeite und seinem Lohnerwerb nachging.

Der Hafen kam ihr heute besonders belebt vor, die Leute schienen irgendwie aufgeregt zu sein. Als sie dann am Kai um die Ecke der großen Gildenhalle bog, die das Kernstück am Hafen bildete, sah sie es dann. Der große Anlegesteg vor der Hafenmeisterei ihres Vater lag zur Hälfte im Wasser und war nicht mehr begehbar. Die großen Stützpfeiler der Stege waren gebrochen, und noch immer lösten sich Bohlen und Planken krachend ab und versanken im Hafenbecken. Auch das kleine Zollhäuschen war bereits in das aufgewühlte Wasser gekippt. Urben Helms, Reents Helfer im Kontor, Nadim al Anshar und Ne’Patinor standen laut fluchend und schimpfend bis zur Hüfte im Wasser, räumten mit vereinten Kräften den Schutt beiseite und stemmten einen morschen Balken nach dem anderen an Land.
Vor dem Steg hatte sich ein anderer Pulk Menschen um den dort zusammengetragenen Haufen zersplitterter Planken und morscher Balken versammelt. Kees van Malderen, seines Zeichens Bürgermeister von Westcliff stand dort zusammen mit einigen sehr wichtigen Leuten des Dorfes, hatte ein vor Aufregung rotes Gesicht und wedelte sich mit einem feinen Taschentuch ständig Luft zu, um den fauligen Geruch zu vertreiben, der aus dem Holz kam. Bei ihm standen neben ihrem Vater Theyde und ihrem Verlobten Reent van Thaden auch Charles de Morency, gewählter Ältermann der Kaufmannschaft von Westcliff , Jon’Dalar, ein älterer Handwerker und Lord Tehan Dal’Maris.

Gyde wurde neugierig und kam näher heran, als Reent van Thaden sie in der Menge erkannte und sie zu sich ran winkte, eine Hand um ihre Hüfte legte und sie an seiner Seite festhielt. Seine Verlobte nahm das als gutes Zeichen, ihr Anliegen gleich vorzubringen. „Reent“ sagte sie leise, „ich würde gerne mit dir reden wenn es dir recht ist. Es geht um die Taverne.“
„Später, mein Engel, das passt jetzt nicht gut. Wir haben hier gerade etwas ernstere Probleme.“ Reent lächelte leicht, wirkte aber etwas angespannt, wie sie fand. Er drückte ihr einen sanften Kuss auf die Schläfe und sagte dann ebenso leise zurück:
„Wir reden darüber später noch in Ruhe, aber bleib doch und hör mit zu.“ Gyde lehnte sich leicht an ihn, und genoss seine Umarmung. Das gab ihr die Gelegenheit, sich auch mal Kalifas Vater, den Lord von Westcliff etwas näher anzusehen. Den Lord sah man sonst nie, außer es mussten wichtige Entscheidungen im Dorf gefällt werden. Sie kniff sich kurz in den Arm, um sich zu vergewissern, das sie nicht träumte, aber da stand er tatsächlich.

Lord Tehan Dal’Maris war ein Mann um die sechzig Jahre herum. An den Augenwinkeln hatte er einige leichte Falten, die dem Betrachter etwas über sein wahres Alter aussagen konnte, aber der Lord hatte sich für sich für sein Alter erstaunlich gut gehalten. Sein schlanker, muskulöser Körper steckte in einem einfachen, ziemlich schlichtgeschnittenen Rock mit passender Weste aus mittelblauer Seide mit leichter Silberstickerei an Kragen, Verschlussleisten und Ärmelaufschlägen, und der weite bauschige Kragen seines weißen feinen Leinenhemdes wurde mit einer ebenfalls nur sehr schlichten Schnalle zusammengehalten. Er trug eine beigefarbene, eng geschnittene Hose, die Füße steckten in kniehohen braunen, engen Reiterstiefeln. Die kinnlangen Haare waren blond, von ganz leichten grauen Strähnen durchzogen und fielen ihm locker aus der Stirn in den Nacken. Sein Blick war von einer ernsten Durchdringlichkeit, die einem aus dunkelgrauen Augen aus diesen feinen und adligen Gesichtszügen anschauten. Lord Tehan lächelte nur selten und war auch kein Mann der lauten Worte. Er war auf seine Art ein bescheidener Mensch geblieben, dem es aber geschickt gelangt, die stolze Art des sonst so hochmütigen Adels vor den Bewohnern von Westcliff nicht spüren zu lassen. Ja, er hatte diese stille, aber durchdringende Präsens, die ihm allein durch seine Anwesenheit bei allem großen Respekt verschaffte.

Auf dem Kai lag ein großer Balken, den Jon mit einer dicken Axt zuvor gespaltet hatte. Der Lord stand neben ihm und blickte nachdenklich mit leicht gerunzelter Stirn auf ein langes, graues schleimiges Etwas, das der alte Schmied ihm dann entgegenhielt.
„Hier, MyLord, nun könnt ihr sehen, warum der ganze Steg hier zusammengekracht ist. Diese Biester sind dafür verantwortlich. Die bohren sich durch die dicksten Balken und Bohlen, werden dabei groß wie die Finger eines starken Mannes und machen hier alles morsch und brüchig. Die machen vor nichts halt, sag ich, vor nichts was aus Holz ist – vor allen wenn es im Wasser liegt – im Salzwasser!“ Der alte Schmied zeigte dann auf eine weiße Stelle am Wurm und im Holz:
„Hier seht ihr das hier? Das ist sein Freßwerkzeug. Damit bohrt sich immer tiefere Gänge in die Holzbohlen hier.“ Jon zeigte Lord Tehan nun ein besonders großes Loch in dem Balken, fuhr mit dem Zeigefinger die lange Fraßlinie entlang, die mit einer leichten Kalkschicht ausgekleidet war.
“So schützt er sich. Zwei bis drei Jahre kann so ein Biest überleben, wenn man nichts unternimmt.“ Der alte Schmied schmiss den langen Wurm dann in einen beistehenden Eimer, in sich schon mehrere dieser weichen Würmer befanden.
„Und … wir können also nichts dagegen tun?“ fragte Lord Tehan dann in die Runde der Anwesenden.
„Solange wie Menschen Stege und Schiffe aus Holz verbauen, wird uns dieses Biest ins Handwerk pfuschen. Vermutlich haben diese Würmer schon mehr Schiffe versenkt als alle Piraten und Kaperfahrer der Sieben Meere zusammen. Wenn der Wurm einmal im Holz ist, ist alles zu spät. Soweit ich weiß, hängt die Wucht der Zerstörung wohl von dem Holz ab, das man verwendet,“ warf Charles de Morency nachdenklich ein.
„Da sprecht Ihr ein wahres Wort aus, Charles,“ sagte Theyde in die Runde. „Schiffbohrwürmer gab es schon, seit man die Meere mit Booten befährt und irgendwie breiten sie sich immer weiter aus. Der fühlt sich überall wohl – in warmem Tropenwasser wie hier, in salzigem Meerwasser und auch im Brackwasser der Flüsse. Die fahren als Blinder Passagier auf den Schiffen mit, machen diesem mit ihrer Gefräßigkeit dem Garaus und sind dem braven Seemann noch mehr Schrecken der Meere als alle anderen Ungeheuer auf See. Wo es ihnen zusagt, da vermehren sie sich – mal mehr und mal weniger stark. Warum das das ist, weiß keiner so wirklich, aber Tatsache ist, das sie sich nur im Salzwasser wohl fühlen.“
„Aye“, kam es plötzlich aus dem Wasser. Die Männer schauten sofort auf und sahen auf Nadim, der sich eben an der Kaimauer hochgezogen, um es sich für einen Moment Pause dort bequem gemacht hatte. Er hatte dem Gespräch schon eine Weile im Wasser zugehört und fand, es sei nun an der Zeit, sein Wissen einzubringen.
„Diese Bohlen hier,“ er zeigte auf ein noch nicht allzu zerstörtes Stück, das er in der Hand hielt, „waren überwiegen aus Nadelhölzern – Kiefer und Lärche, die aber auch ohne Würmer sehr schnell morsch werden, wenn sie zu lange im Wasser liegen.“
„Aye, da hat er recht. Das ist wirklich sehr weiches Holz“ bemerkte Jon nebenbei und erntete ein beifälliges Nicken von Nadim.
„Ja Vater, das Holz, das hier verwendet wurde ist einfach zu weich. Kommen dann die Würmer, haben diese dann ein überaus leichtes Spiel und die Stege sind binnen kürzester Zeit durchgefressen. Ich habe auch von anderen Bootsbauern schon gehört, dass selbst das an und für sich harte Eichenholz sehr schnell zerstört wird. Es gibt aber zwei Möglichkeiten, dauerhaftere Stege für unsere Boote zu bauen.“

Lord Tehan horchte auf, und auch Charles Morency blickte nun gespannt auf Nadim runter. Kees van Malderen vergaß für einen Moment, das er sich frische Luft mit seinem feinen Tuch zufächeln wollte und stand, mit offenen Mund einfach nur erststaunt da, bis er von Jon’Dalar einen unaufälligen Stoß in die Rippen bekam und die Lippen wie bei einem Fisch ertappt mit einem leisen Geräusch zuklappten.
„Wenn du Lösungen hast, dann nur heraus damit, Nadim“ bedeutete ihm Lord Tehan aufmunternd und ließ sogar die leise Spur eines Lächelns ahnen. „Lass hören, was du uns vorzuschlagen hast.“
„Danke, MyLord, zu Diensten.“ Nadim sammelte sich kurz. Er schien zu überlegen, wie er es am besten sagte.
„MyLord, der Steg muss in jedem Fall hier repariert werden, damit der Betrieb hier am Hafen weitergeht und der weitere Handel mit dem Land sichergestellt ist. In Hinblick auf die Dorfkasse müssen wir die Kosten im Auge behalten, aber auch eine dauerhaftere Lösung für dieses leider nicht vermeidbare Problem schaffen. Wie ich schon sagte, gibt es zwei Lösungen dafür. Wenn der Wurm gerne Holz frisst, müssen wir ihm etwas zu fressen geben, woran er sich entweder die Zähne ausbeißen wird, oder etwas was er nicht mag. Wir könnten die Stege entweder aus Stein bauen, als Verlängerung für die Hafenkante, was eine sehr arbeitsintensive und auch sehr kostspielige Angelegenheit wäre, da wir die Steine erst nach Westcliff importieren müssen. Die zweite Möglichkeit,“ dabei zeigte Nadim auf den dichten Dschungel, der hinter dem Dorf begann,“ liegt direkt hier vor unserer Haustür. Einige dieser Baumriesen haben sehr, sehr hartes Holz. Selbst die Termiten der Erde brauchen sehr lange, um dort ein Loch in die obersten Schichten zu nagen, warum sollte es dann mit dem Termiten des Meeres anders sein?“

Die Lösung schien so einfach. Die Männer blickten sich untereinander verblüfft an und ließen die Aussage des jungen Handwerkers zunächst einmal kurz sacken, nachdem jeder den Erfolg der beiden Vorschläge im Inneren durch gegangen war. Kees van Malderen atmete schwer und schnappte immer noch überrascht nach Luft.
„Ein Steg ganz aus Steinen – was für eine verrückte Idee!“ stammelte er dann und wedelte sich wieder Luft zu.
„Nein, Kees, so eine verrückte Idee ist das nicht. Ich bin mir sicher, dass man eines Tages alle Hafenanlagen in Zukunft so bauen wird. Aber wie Nadim hier schon eingewandt hat, belastet ein solches Vorhaben auch ungemein die Dorfkasse.“
„Nun meine Herren, ich muss zugeben, auch ich finde die dauerhaftere Lösung von beiden auch sehr reizvoll.“ Lord Tehan blickte ernst in die Runde und schien zu überlegen. Dann wandte er sich Reent van Thaden zu.
„Mein lieber van Thaden, als Verwalter und Bewahrer der Dorfkasse von Westcliff frage ich euch, wie weit es denn wirklich mit den Finanzen hier bestellt ist. Stimmen die Aussagen der Herren denn, das die Kasse hier wirklich sehr knapp bemessen ist?“
„MyLord, wir haben zur Zeit etwa eine Million goldener Taler in der Kasse. Davon müssen noch die Kosten für die durch den Sturm verursachten Schäden getragen werden sowie eine Grundversorgung der Bevölkerung sichergestellt sein. Wir werden hier etwa fünfhunderttausend Goldtaler für den neun Lebensmitteleinkauf fest einplanen müssen und ungefähr dreihunderttausend Goldtaler für die Begleichung der Sturmschäden an den Gebäuden. Wir müssen auch Löhne bezahlen – ich fürchte da bleibt am Ende für Träumereien nicht mehr viel übrig.“ Reent van Thaden klang etwas betrübt. Auch ihm hatte die Idee gut gefallen, den so gefräßigem kleinen Monster dem Garaus zu machen, in dem ihm auf Stein beißen ließ.
Lord Tehan Dal’Maris nickte dann knapp, warf dem Kontoristen aber einen aufmunternden Blick zu. Nun konnte man sogar die Ahnung eines schelmischen Grinsens wahrnehmen.
„Machen Sie sich keine so düsteren Gedanken, van Thaden. Wie schon gesagt, es reizt mich zwar, den ganzen Hafen hier wurmsicher machen zu lassen, indem wir hier massig Steine verbauen, aber damit wäre ein Dorfhafen komfortabler ausgestattet als der Hafen in der Hauptstadt in Britain, und ich möchte mir nicht den Zorn Blackthornes zuziehen. Sie verstehen das sicher, meine Herren.“ Der Lord blickte kurz reihum auf die versammelten Männer und konnte ein spürbares Aufatmen vornehmen.
„Wir werden also die kostengünstigere Variante der beiden nehmen. Van Thaden,“ er wandte sich noch mal direkt an Reent.
„Verplant dafür etwa einhundert Goldtaler aus der Dorfkasse, mit denen wir den Männern für eine Zeit höhere Löhne zahlen werden. Sollte das Gold nicht bis zum Ende des Baues reichen, wird der Rest aus dem Vermögen meiner Familie aufgestockt und ein Schuldschein im Kontor hinterlegt, nachdem mir ein Teil der überschüssigen Gewinne aus dem zukünftigen Handel wieder zurückgezahlt wird. Die Löhne der Handwerker trage ich höchstpersönlich. Zur Ausführung des gesamten Bauvorhabens setzen wir einen gewissen Zeitrahmen, der nach Bedarf noch einmal verlängert werden kann und die Abstimmung im Ältestenrat dazu erforderlich macht.“ Er wandte sich zu Charles de Morency.
„De Morency, ihr ruft unverzüglich eine Sitzung des Rates mit allen Beteiligten ein, damit wir den Kontrakt baldmöglichst schließen können. Nadim al Anschar, ich halte euch für einen sehr fähigen Baumeister. Daher betraue ich mit dem Bau der neuen Bootsanleger und der Stege sowie der Errichtung einer neuen Zollstation. Sucht euch ein Dutzend Männer, die ihr dafür für fähig haltet und schafft dieses besondere Holz aus dem Dschungel heran. Das wäre zunächst alles. Bis zur Klärung weiterer Anliegen werde ich mich noch eine Weile hier aufhalten, meiner entzückenden Tochter Kalifa in ihrer Taverne einen Besuch abstatten. Man sagte mir heute, es gäbe dort einen leckeren Truthahn! Ach Kees, wie wäre es, wenn ihr mich ein Stück begleitet. Ich lade euch zum Essen ein“
Dem armen Bürgermeister wusste gar nicht wie ihm geschah, als er so plötzlich von Lord Tehan untergehakt und in Richtung des Blauen Ritters gelenkt wurde. Die Leute lachten leise und blickten dem gemächlich schlendernden Pärchen noch hinterher, bis sie an der Ecke der Halle verschwunden waren, und trollten sich dann.

Nadim war mit seinem Vater noch am Kai geblieben, um das morsche Holz dann auf einen Karren zu verladen, um es dann später im Wald gänzlich verrotten zu lassen.
„Übrigens, Vater“ meinte er dann, „was willst du eigentlich mit dem ganzen Gewürm anfangen, das du dir hier schon gesammelt hast?“
Nadim zeigte auf die drei vollen Eimer, die mitlerweile an der Kaimauer standen und in denen sich die Würmer in Scharen tummelten.
„Wären das Austern gewesen, hättest du sie ja im Ritter abgeben können, und Gyde hätte davon etwas Anständiges für die Hohen Herrschaften gekocht. Aber so schleimiges Zeug mag doch keiner haben!“
„Ach Jung, was weißt denn du! Ich bring das nachher in die Apotheke. Nyrén hängt die dann zum Trocknen auf, malt ein hübsches Pülverchen davon und dann,“ Jon kicherte schelmisch, „und dann - dann bring ich das nach Trinsic zum Heiler und verkaufe Ihnen das als neuestes Wundermittelchen gegen allerlei Beschwerden. Wirst schon sehen!“
„Du bist wirklich unverbesserlich, Vater.“ Nadim lachte bei der Vorstellung.“Aber lass dich bloß nicht dabei erwischen!“
 
Verwirrte Sinne (Klabautermann Teil 2)

Die Versammlung löste sich rasch auf, und jeder der Teil dieser Crew war, stand bald wieder an seinem Posten. Ein Teil der Männer kletterte in der Takelage herum und kontrollierte die Befestigung der Segel an den Masten und besserte dort gleich rissige Stellen im Tuch aus, wenn sie welche fanden. LaFayette, der Schwarz-Arikaner, war wieder auf seinen Posten in den Ausguck gegangen und hatte den jungen Samuel mitgenommen.

Fitsch und Kunsch waren nun wirklich in die Lagerräume gegangen und suchten dort nach dem klopfenden Geräusch, aber die Ladung war bereits wieder gut vertäut. Hier würde sich hoffentlich die nächste Zeit nichts mehr lösen und auf dem Lagerdeck herum poltern. Kunsch seufzte etwas sehnsüchtig, als er die Fässer mit Rum sah.
„Arrrrr… es ist ein Jammer.“ Im Ton des alten Matrosen klang leicht knarzig und selbstmitleidig.
„So ein edles Tröpfchen, und der Alte will es verkaufen. Nicht mal steifen Grog hat er uns genehmigt.“ Er schielte sehnsüchtig mit glasigen, verquollenen Augen auf das verschlossene Fass und betastete seine leere Buddel, die in seinem Hosenbund steckte. Mit leicht zittriger Hand strich er vorsichtig über das Holz des Fasses und befühlte die Verkorkung.
„Und …. Ist die Verkorkung noch dicht? Wenn das so ist, können wir dem Alten ja nun Meldung machen. Hier klappert die nächsten hundert Jahre nichts mehr.“ Fitsch stand plötzlich neben Kunsch und sah seinen Kumpan prüfend an.
„Alter Schwede, nun stier nicht wie ne olle Flunder auf das Fass hier. Du weißt, was der Alte gesagt hat. Das Zeug wird in Serpents verkauft und gut ist. Da gibt’s kein Wenn und Aber. Finde dich jetzt damit ab, das du erst einmal eine Weile auf dem Trockendock hier liegst.“ Er nahm Kunschens zittrige Hand, schob sie dann vom Fass runter und presste sie einen Augenblick fest in seiner Faust.
„Mensch Kunsch, … hör doch mal! in einer Woche spätestens sind wir in Serpents – bis dahin hälst das aus, Kumpel! Da gibt’s in Rum in rauhen Mengen ….und Weiber…. Weiber sag ich dir!“ Fitsch sah seinen Kumpel mit weit geöffneten Augen und einen Ausdruck aus fester Überzeugung und freudiger Erwartung ob dieser Vorstellung an und wirkte regelrecht ansteckend in seiner Begeisterung und malte mit beiden Händen die Figur einer sehr drallen und üppigen Frau nach.
Kunsch schaute kurz mit einem blöden Gesichtsausdruck auf seinen Freund. Er brauchte eine kleine Weile bis er begriff, was Fitsch ihm da erzählte, fuhr mit der Zunge über seine trockenen, salzverkrusteten Lippen und stieß ein meckerndes Kichern aus:
Rum…. ja…..das gut….und Weiber auch….aber Rum ist besser.“
Fitsch nickte noch mal eifrig, froh darüber dass sein Plan funktionierte hatte, und er seinen Freund erneut davon abhalten konnte, sich ohne Kenntnis des Kapitäns und auch dem Schiffskoch von dem Rumfass zu bedienen. Er atmete erleichtert aus, knuffte dem älteren Matrosen freundschaftlich vor die Brust.
„Wir schaffen das. Und wenn du Brand kriegst, kriegst du mein Wasser.“
„Du willst mir dein Wasser geben? Aber dann hast du ja keins mehr. Nee geht nicht!“
„Nun red nicht! Wenn ich sage, es geht, dann geht das! Und nun komm rauf, der Alte will ne Meldung haben!“ Er fasste Kunsch hart am Arm und führte seinen strunkeligen Freund nun durch den Laderaum, anschließend die Treppe hoch und dann ins wieder ins Freie.

Es war noch früher Vormittag, aber die Sonne stand schon sehr hoch am Himmel. Immer wieder brach sich das Licht ihrer Strahlen in den kleinen Lochstellen der rissigen Segel und schickte ihre blendenden Strahlen auf das Oberdeck. Auf den Deck hatten die übrigen Männer, die nicht in den Masten hingen und die Takelage überprüften, damit begonnen, das Deck zu schrubben, und durch das nasse Holz wurde die blendende Wirkung der Strahlen noch mehr verstärkt. Ein leichter Wind blähte die Segel und brachte die „Silver Sirene“ auf gute Fahrt
Benommen torkelte Kunsch über das schwankende Deck zur Reeling hinüber. Der Wechsel aus dem stickigen Vorratslager in die frische Brise auf dem Oberdeck verursachte ihm plötzlich starken Schwindel, und die aufkommende Übelkeit ließ ihm schwarz vor Augen werden. Er übergab sich, wo er gerade stand, und es dauerte eine ganze Weile, bis sein rebellierender Magen die grünliche Galle auf das Deck ausgekotzt hatte.
„Mensch, pass doch auf“, sagte einer der Männer ärgerlich, aber das registrierte der alte Matrose nicht wirklich. Er wischte sich dann den letzten Rest Erbrochenes mit seinem ‚Ärmel weg und schaute blinzelnd über das Deck hinweg nach oben. Kapitän MacDaragh stand zusammen mit Nathan O’Cole auf der Kommandobrücke und überprüfte immer wieder mit nautischen Geräten den Kurs. Am Steuer stand ein jüngerer Seemann mit Namen FinFin auf Position und drehte nur ganz leicht das Rad, wenn es ein neues Kommando von den beiden Offizieren gab.
Kunsch blickte dann hinauf zum Bugspriet, wo ein jüngerer Seemann namens Ne’Marron die Flaschenzüge überprüfte. Als sich dann knarzend eine Tür unter der Kommandobrücke öffnete drehte er sich wieder nach dem Geräusch um. Mejdi Kazimi, der Schiffarzt war mit einem der Seeleute, die sich bei dem Sturm verletzt und ein paar Knochen gebrochen hatten, an Deck gekommen. Kunsch schaute ihnen zu. Mejdi war Araber, aber er behandelte seinen Patienten gut und so völlig anders, als man es sonst von den Schiffsärzten kannte, die sich oft nur Ärzte nannten, aber keine waren. Der Arzt hatte den völlig geschwächten Mann untergefasst, stützte ihn ein wenig ab und ließ ihn eine Weile am Türrahmen verschnaufen. Das linke Bein des Seemanns war notdürftig geschient worden, die Gestalt war hager und ausgemergelt und sein Gesicht hatte die fahle Farbe eines Todgeweihten.
Er schien große Schmerzen zu haben und es war offensichtlich, dass er dennoch tapfer dagegen ankämpfte. Mejdi wollte ihn gerade ermuntern, langsam weiter in Richtung der Treppe zu gehen, die auf die Kommandobrücke führte, als der Mann plötzlich vor Schrecken seine Augen aufriss und mit zittrigen Finger auf Kunsch deutete.
„Arrr….. weh uns… wir sind verloren! Wir sind alle verloren. Da…da…da steht er!“ Die Stimme des Mannes war nun vor Angst fast erstickt und in ein undeutliches Gurgeln übergegangen.
„Ich verstehe nicht“ sagte Mejdi und folgte der Richtung des ausgestreckten Fingers des Mannes.
„Wer steht dort?“ fragte er. Die Stimme des Mannes schnappte nun leicht über:
„Der…der ….Klam…“ fing er zu stammeln an, „der Klabs….“, er schluckte noch mal, setzte denn nach einem tiefen Luftholen noch mal an und wirkte dann plötzlich völlig gefasst.
„Der Klabautermann“ sagte er nun für alle in seinem Umfeld nun deutlich verständlich und nickte dabei leicht.
„Da drüben steht er, ich sehe ihn doch! Ein kleines altes Männchen mit großen feuerroten Kopf und grauem Bart. Da steht er doch mit seinem Hammer in der Hand! Nun ist’s aus mit uns!“
Alle Blicken fielen nun auf Kunsch, der mit seinen roten Backen und hellen blauen Augen und mit vor Verblüffung nun offenen Mund, aus dem man die vom Skorbut faulen, seegrün wirkenden Zahnstummel sehen konnte, mit seinem faltigen eingefallenen und totenbleichen Gesicht nun auf die Menge glotzte und mit seiner dünnen Stimme kaum protestieren konnte. Sein alter klappriger Körper steckte in Tuchjacke, Seemannhosen und Seestiefel, und um den Kopf hatte er einen dreckigen Turban gebunden, der einmal rot gewesen sein musste, und den der verletzte Seemann hier für einen Feuerkopf gehalten hatte. Ja, Kunsch sah wirklich auch wie der leibhaftige Klabautermann, und das einzige was an ihm noch fehlte, war das Ölzeug, der Südwester und die Pfeife im Mundwinkel.

Mejdi fragte sich wieder einmal, ob er nicht vielleicht doch zu großzügig mit dem Opium umging, das die Schmerzen der Verletzten um einiges ertragbarer machte.
„Bei Allah und allen mächtigen Propheten!“ murmelte er leise. Dann straffte er sich und sagte mit ruhiger Stimme:
„Aber nein! Sieh, das ist doch nur Kunsch!“ Um ihn herum erklang das leise Gelächter der anderen.
„Kunsch?“ kam es zweifelnd zurück.
„Ja Kunsch. Kunsch, der Matrose. Nicht der Klabautermann!“ Mejdi nickte dem Mann aufmunternd zu. Dann fing auch er an zu grinsen. „Aber Kunsch, der wie ein Klabautermann aussieht!“
Wieder lachten alle Umgebenden erheitert, und irgendjemand stimmte dann ein lustiges Lied an, in das bald alle in der Crew einfielen und kräftig mitsangen.

Flink auf, die luftigen Segel gespannt!
Wir fliegen wie Vögel von Strand zu Strand;
Wir tanzen auf Wellen um Klipp und Riff,
Wir haben das Schiff nach dem Pfiff im Griff,
Wir können, was kein anderer kann,
Wir haben einen Klabautermann!

Der Klabautermann ist ein wackerer Geist,
Der alles im Schiff sich rühren heißt,
Der überall, überall mit uns reist,
Mit dem Schiffskapitän flink trinkt und speist:
Beim Steuermann sitzt er und wacht die Nacht,
Und oben in der Mars, wenn das Wetter kracht.

Ist's Wetter klar und die Fahrt gelingt,
So nimmt er die Geige und tanzt und springt,
Und alles muss auf dem Deck sich schwingen,
Unzählige, selige Lieder singen.
Nicht Sturm, nicht Wurm, nichts ficht ihn an:
Wir haben den wahren Klabautermann!

Hei, entert er auf! Sei die See auch groß,
Klabautermann lässt kein Ende los;
Er läuft auf den Rahen, wenn alles zerreißt,
Er tut, was der Kapitän ihn geheißt.
Und wisst ihr, wie man ihn rufen kann?
"Courage" heißt der Klabautermann *



(* Gedicht oder Lied „Klabautermann“ von Paul Gerhard Heim. Ob es sich hier nun um ein Gedicht oder um ein Lied handelt, war für mich nicht eindeutig durch Google herauszufiltern. Ich fand aber, dass es zur Storyline gut passt und ich wollte es euch auch nicht vorenthalten :blinzel: ).
 
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Schiffsbruch (Teil 2) – Überlebenskampf auf offener See

Ein einziger Gedanke bestimmte jetzt sein Handeln. Er durfte nicht untergehen, sonst würde er diesen Kampf schon verloren haben. Auf den schmalen Streifen Planken, auf den sich Jacaran vorläufig gerettet hatte, war kein langes Überleben möglich. Ohne Wasser, schutzlos der sengenden Sonne und den Haien ausgesetzt, von denen man sagte, dass sie hier in der Gegend vorkamen, würden ihn irgendwann die Kräfte verlassen, aber bis dahin würde er um sein Leben kämpfen.

Jacaran richtete sich etwas auf und sah sich nun genauer um. Er war wieder etwas zu Kräften gekommen und versuchte nun, einen klaren Gedanken zu fassen. Von der untergegangen „Ricochet“ hatten sich noch mehr Holzteile beim Untergang gelöst, waren in seiner Nähe an die Wasseroberfläche gelangt und schaukelten nun sanft auf dem Wasser. Neben den leeren Fässern und einzelnen Holzplanken trieben dort nun auch die längeren Balken der Querbalken, an denen teilweise noch Segelfetzen und Seile hingen. Er musste jetzt schnell handeln, sonst würden die treibenden Wrackteile bald durch den leichten Seegang abdriften und für ihn dann unerreichbar sein.

Jacaran legte sich längt auf seinen schmalen Planken und fing an zu paddeln, bis er die Balken erreicht hatte. Dann machte er sich daran, seine notdürftiges Rettungsfloß mit allem was er in der nächsten Nähe fand, zu verbinden, um die Fläche auf ein erträgliches und vor Abrutschen sichereres Maß zu vergrößern. Die Arbeit ging nur langsam voran und zerrte zuweilen an seinen Nerven, da er die etwas weiter entfernteren Wrackteile nur durch Schwimmen im eiskalten Meerwasser erreichen konnte. Er zitterte heftig und kämpfte gegen die Unterkühlung an, die sich langsam in seinen Körper ausbreitete, ihm Krämpfe und Schmerzen in den Muskeln bescherte und seine Gliedmaßen steif machte. Wieder einmal zog er sich mit letzten Kräften aus dem Wasser, legte sich völlig ausgepumpt auf sein kleines Rettungsfloß und rollte sich in sich zusammen, um sich so selbst etwas zu wärmen. Jacaran war erschöpft, aber auch erleichtert darüber, dass diese bizarr aussehende schwimmende Insel aus Holz langsam aber stetig anwuchs.

Er musste bis in den Vormittag gearbeitet haben. Das dämmrige Licht des Morgens war nun hellem Tageslicht gewichen. Die Sonne schien von einem fast wolkenfreien Himmel auf ihn herunter und hatte die Kälte bald aus den Gliedern vertrieben. Jacaran fühlte sich für eine Weile geborgen. Er schloss müde die Augen und wollte schon einschlafen, als ihm plötzlich noch ein Gedanke durch den Kopf schoss.

Die Sonne würde kein Erbarmen kennen. Sie würde ihre sengend heißen und unerbittlichen Strahlen weiter auf das Meer schicken, und sie würde ihm in kürzester Zeit die salzverkrustete Haut so verbrennen, dass sie Blasen schlagen würde. Aber wo sollte er hier in den Schatten gehen? Kraftlos streckte er seine Hand aus und ließ diese in einer Ruderbewegung über die Planken gleiten. Dann fühlten seine Finger das Ende eines Segels, dessen zerfetzter Stoff sich leicht im Wind blähte. Seine Faust griff nun stärker in den Stoff. Langsam aber stetig zog er sich unter das Segel bis er darunter zum Liegen kam.

Der Durst kam nun auch langsam und quälend, aber die Müdigkeit, gegen die er jetzt nicht mehr ankämpfte, war stärker. Die bleischweren Augenlider fielen ihm wie von selbst zu. Er würde sich nun für einen Moment ausruhen – nur für einen kleinen Moment...
 
Nixen, Prinzen und Meerjungfrauen

Wenn die Stürme kamen, war das für die Bewohner der Meere immer eine sehr aufregende Zeit. Der sonst im Licht der Sonne oder des vollen Mondes durchleuchte Palast des Meerkönigs auf dem Grund des Meeresbodens wurde dann von dunklen, fleckenhaften Schatten überflutet, die dem ganzen einen unheimlichen Zauber verliehen, und auch das Fortbewegen im Wasser wurde etwas mühseliger. Dies war die die Zeit, in der sich alle - vom kleinsten Fisch bis zum großen Walhai - tiefer ins Meer zurückzogen und sich etwas ausruhten.

Im einen Zimmer des Palastes saß eine hübsche junge Meerjungfrau am Fenster, kämmte sich ihre langen, grünen Haare und langweilte sich ein wenig. Das Leben im Palast das Meerkönigs war nicht unaufregend, aber es bot doch kaum Abwechslung im täglichen Geplänkel, das um den Meerkönig veranstaltet wurde. Neben ihr lümmelte sich ein kleiner Clownfisch in seiner Anemone, die sich einen schönen Platz an ihrem Fensterrahmen gesucht hatte und schwärmte ihr von den neuesten Ereignissen vor.
„Ach, Siadin, das ist so aufregend“ plapperte Samtanemo munter drauf los und drehte immer wieder tänzerische Kreise in seiner Seeanemone.
„Ich bin aufgeregt, der König ist aufgeregt…der ganze Hofstaat…“ er seufzte ergeben und schaute dann träumerisch aus seiner Seeanemone auf die hübsche Meerjungfrau, die ihm schmunzelnd zuhörte.
„König Neptomuk der Dritte, der große König Neptomuk hat es heute bei seinem morgendlichen Frühstück verkündet. Nächste Woche werden wir hohen Besuch bekommen, haushohen… ach was sag ich denn… meerhohen Besuch! Prinz Narautilo aus Korallavia wird uns mit großem Gefolge besuchen und sich einer der drei hübschen Töchter des Königs zur Frau nehmen. Der König lässt bereits den ganzen Palast ausputzen und fein machen für den hohen Besuch und Tahita, Serina und Nayalya sind schon ganz aufgeregt…ich bin so aufgeregt…“
„Das sagtest du bereits, Samta.“ Siadin lachte nun herzhaft auf und unterbrach so den Redeschwall des kleinen Fisches.
„Nun also… „fuhr sie fort, „dann wollen wir hoffen, dass er dieses Mal eine seiner hübschen Töchter unter die Muschelhaube bringen kann. Diese drei Schönheiten sind – und das weiß nun wirklich hier jeder – bekanntlich recht wählerisch, was die Männer angeht. Du kennst sie doch. Sie würden viel lieber einen dieser hübschen Menschen-Männer zu sich holen und heiraten. Wie oft haben sie das schon versucht, besonders die älteste, Tahita.“ Siadin legte die Haarbürste nun beiseite und band sich die grünen Haare nun locker im Nacken zu einem Zopf zusammen.
„Leider vergessen sie dabei immer, dass die Menschen für das Leben im Wasser nicht geschaffen wurden. Eine Seefräulein gehört auch nicht auf das feste Land, und eine Auster muss nur schmecken, aber nicht singen wie ein Nachtigall.“ Siadin band nun ihre Haare leicht im Nacken zusammen, erhob sich dann von dem Fenstersims.
„Nachtigall?“ fragte der kleine Clownfisch nun verblüfft. „Vergleichst du die Stimme von Prinzessin Tahita nun mit dem Gekrächze von Seemöven, die sich über den Abfall der Fischer hermachen?“ Der kleine Fisch klang etwas empört, und Siadin seufzte etwas ergeben. Ihr kleiner Freund wusste nicht wirklich, was eine Nachtigall war.
„Samta…,“ meinte sie dann tadelnd, „ich würde mir nie anmaßen, Prinzessin Tahita eine krächzende Seemöve zu nennen…“
‚…obwohl sich diese garstige Nixe manchmal wie eine benimmt. Wenn nicht sogar schlimmer…‘, ergänzte sie im Stillen weiter, aber das musste sie dem kleinen Plappermäulchen nicht unbedingt auf die Nase binden. Samta konnte sowas selten für sich behalten. Während ihr kleiner fischiger Freund durch diese Worte wieder beruhigt munter weiterplapperte und seine Anemone liebkoste, dachte Siadin über das Wesen ihres Volkses nach.

Es war in dieser Welt genau bestimmt, wer von Geburt und Wesen her eine Nixe und wer eine Meerjungfrau war. Die Menschen, das wusste Siadin, taten das nicht – sie machten hier keine großen Unterschiede und vielleicht hatten sie sogar recht damit. Sie beschrieben ihr Volk insgesamt als geheimnisvolle Wasserwesen - Männer und Frauen mit einem Fischschwanz, der mit grünen oder goldenen Schuppen bedeckt war und der in einer waagerechten Fluke ähnlich der von Delphinen oder Walen endete. Mischwesen also, die – so sagten sie - verflucht waren und die nach Erlösung aus ihrem Schicksal suchten. Aber was war hier Schicksal?
Nach Meinung der Menschen ein seelenloses oder verdammtes Wesen zu sein, das nur durch die Liebe eines menschlichen Gemahles Erlösung und Errettung von dem angeblich auferlegten Fluch zu finden, einem Mann- einen menschlichen Mann- zu heiraten? Siadin schüttelte leicht genervt den Kopf über diese dümmlichen Behauptungen. Sie fühlte sich auch nicht seelenlos oder verdammt, und ein Sehnen nach dieser Art von Liebe war ihr fremd. Sie hatte auch nie das Verlangen gehabt, in menschlicher Gestalt an Land zu leben, auch wenn ihr diese Möglichkeit als Meerjungfrau offenstand. Ihr Unterleib würde sich dann an einem bestimmten Tag der Woche, zu einer bestimmten Stunde, für die Dauer eines Bades zurück in seine wahre Form zurückverwandeln, aber dieses Bad war wiederum auch notwendig, damit eine Meerjungfrau wieder auf diesen menschlichen Stelzen rumwandeln konnte. Siadin seufzte leicht. Nein das war ihr zu kompliziert. Auch wenn sie ihren menschlichen Freund Theyde sehr vermisste und die Welt in der er lebte, wohl durchaus interessant war und ihre Reize hatte.

Die Menschen kannten viele Geschichten, die über ihr Volk handelten, aber die meisten davon waren wohl erfunden und nur wenige waren davon wahr. Siadin wusste auch, das ihr Volk den Fischschwanz in bestimmten Mondnächten für einige Stunden ablegen konnte, um an Land zu gehen wie ein echter Mensch auf zwei Beinen, aber sie wusste auch, dass es nicht ganz ungefährlich war. War es doch mit dem Versprechen an den König gebunden, das feste Land nur im Dunkel der Nacht im Scheine des Mondlichtes zu betreten, um möglichst unentdeckt zu bleiben, um dann wieder zu Beginn des Morgengrauens, noch ehe das erste Sonnenlicht das Wasser streifte, wieder zurück im Wasser zu sein. Wenn man diese Stunde verpasste und das erste Sonnenlicht den Körper traf, starb man augenblicklich und wurde zu Meerschaum. Die junge Meerjungfrau wirkte etwas nachdenklich. Vor einigen Jahren hatte ein Flussfürst auf diese tragische Weise seine Töchter verloren. In der Regel war es eher anders herum. Und es waren auch eher die Nixen, die für den so schlechten Ruf unter den Menschen gesorgt hatten.

Die Nixen, die die Menschen auch Sirenen nannten, waren eine besondere Spezies unter den Meerjungfrauen und konnten bestimmt nicht als lieblich bezeichnet werden. Sie besaßen ein eher dunkles Wesen, und waren berüchtigt dafür, dass sie die Menschen oft genug mutwillig in Gefahr brachten, ihnen Schaden zufügten oder sie letztendlich sogar in den Tod zogen. Sie waren diejenigen, die man Wassergeister nannte, aber Siadin fand, dass der Begriff Plagegeister hier viel besser passte. Ihr Sehnen nach Liebe war offensichtlich darauf zurückzuführen, dass man in dieser Welt Wassermänner sehr viel seltener antraf als die menschlichen Männer, die zudem auch oft sehr hübsch waren. Die Väter waren die einzigsten Wassermänner, die man als Meerjungfrau hier unten kennenlernte, aber die waren oft nicht sehr hübsch. Durch ihre außerordentliche Schönheit, mit der Meerjungfrauen im allgemeinen gesegnet sind, als auch durch ihren betörenden Gesang, verführten sie die Männer der Menschen und zogen sie dann zu sich in die Tiefe des Meeres. Irgendein Zauber, den sie dann anwandten, hielt sie dann in einer Art komatösem Zustand auf dem Grund des Meeres lebendig, aber mit einem bewusstlosen Mann lässt sich leider nur sehr wenig anfangen. Man konnte ihn dann nur betrachten wie eine Statue, und nicht jeder Mann war so schön genug, als dass eine Nixe ihm nicht bald überdrüssig wurde und den Zauber wieder auflöste, der den armen Kerl sofort ertrinken ließ.

Für eine Nixe stand im Gegensatz zu einer Meerjungfrau das ewige Leben auf dem Spiel, die unsterbliche Seele, die sie nur erlangen konnte, wenn sie einen Mann heirate. Eine Meerjungfrau tat das nicht. Eine Meerjungfrau gab ihre Seele für die Liebe eines Mannes und dafür, sterblich zu werden.
 
Waren, Handel und Verträge

„Ich stelle fest, jetzt wo ich das ganze hier persönlich sehe und die Menschen hier kennenlerne, kann ich verstehen, dass dich nichts mehr nach Hause treibt, mein Kind.“ Lord Tehan Dal’Maris war auf den kleinen Balkon seines Zimmers getreten, das er sich im „Fisherman’s Rest Inn“ genommen hatte.
"Westcliff…“ Lord Tehan ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und blickte dann in die untergehende Abendsonne, die das Meer golden verfärbte. „Westcliff ist wirklich ein sehr passender Name für diesen Ort… hier im äußersten Westen des Landes. Die Menschen können hier wirklich stolz auf das sein, was sie sich hier geschaffen haben.“
Lord Tehan blickte noch eine Weile andächtig auf das Meer und hing seinen Gedanken nach. Kalifa hatte sich auf das Sofa gesetzt, die Hände in den Schoss gelegt und wartete stillschweigend ab, bis ihr Vater wieder etwas zu sagen hatte. Was hätte sie jetzt auch groß sagen sollen. Für den Augenblick war sie ihm nur dankbar, dass er ihr keine großen Vorwürfe machte. Der Lord trat nun wieder ins Zimmer, setzte sich zu ihr und blickte dann seine Tochter an. Ganz kurz trat ein sanfter Ausdruck in seine Augen.
„Darf ich dir noch was sagen?“
„Ja, Papa.“ Kalifa fühlte sich immer noch wie das kleine Mädchen in seiner Nähe. Sie betrachtete ihn forschend, aber ihr Vater lächelte.
„Weißt du ich bin sehr stolz auf dich, Kalifa. Wenn ich je strenger zu dir gewesen bin als zu deinen beiden Brüdern Tamar und Telfan, dann nicht, weil ich dich nicht weniger liebe als sie. Auch nicht, weil du ein weit aus kühneres Wesen als die beiden hast, was mir und deiner Mutter immer viele schlaflose Nächte bereitet hat. Glaub mir, ich war mir immer sehr bewusst, dass du meine einzige Tochter bist.“

Kalifa betrachtete ihn weiter fragend und runzelte leicht verwirrt die Stirn. Sie verstand nicht, was ihr Vater mit seinen Worten eigentlich sagen wollte. Sicher, sie war immer etwas wilder und unbändiger als ihre Brüder gewesen, und wie eine Mädchen aus gutem Hause hatte sie sich auch nicht immer benommen, was ihrem Vater Grund genug gewesen war, sie etwas härter als seine Söhne anzufassen. Als junges Mädchen hatte nie verstanden, warum nur ihre Brüder kämpfen lernen sollten und sie ihr Leben hinter einem langweiligen Webrahmen verbringen sollte.
„Ich fürchte, ich verstehe jetzt nicht ganz, Vater“ sagte sie dann. Lord Tehan schmunzelte leicht.
„Weißt du, ich war etwas strenger zu dir, weil meine schöne, trotzige Tochter mehr Charakterstärke brauchte, mehr Kraft und mehr Ehrgeiz, um in dieser Welt bestehen zu können. Und wenn ich mir die Frau heute ansehe, die aus dir geworden ist, dann denke ich, das ich recht mit meiner Erziehungsstrategie gehabt habe.“
Die junge Frau blickte ihn überrascht an und wurde rot vor Freude. Sie war es nicht gewohnt, von ihrem Vater ein solches Lob zu bekommen und es machte sie sehr glücklich.
„Du hast mit diesen Leuten hier aus dem Nichts etwas aufgebaut, was nur sehr wenige von sich behaupten können. Offensichtlich sind auch deine Vorstellungen von Ehre und Pflicht ebenso streng wie die deiner Brüder. Das sieht man daran, wie du hier mit den Kindern umgehst, auch wenn es nicht deine eigenen sind, was ich sehr bedaure. Du bist für die Menschen hier zum Beschützer und Vorbild geworden. Ich bin wirklich sehr zufrieden, mit der Frau die du geworden bist.“
Lord Tehan betrachtete seine Tochter noch einen Moment voller Zärtlichkeit. Er ließ seiner Tochter etwas Zeit, das eben gesagte zu verinnerlichen. Auch er brauchte nun etwas Zeit, um die richtigen Worte zu finden, wurde dann aber ernst, als er weitersprach.
„Es ist wirklich kaum zu glauben, dass die Krone in Britain von diesem Ort hier nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hat. Blackthorne wird sich wie ein Narr vorkommen, wenn er davon eines Tages erfährt.“
„Die Befürchtung habe ich auch, Vater“, sagte Kalifa. „Bislang haben wir großes Glück gehabt, weil die Siedlung hier sozusagen am Rande der Welt liegt und uns zudem der Dschungel noch beschützt. Aber es gibt bereits genug Seefahrer, die hier Halt auf dem Weg nach Jhelom oder Trinsic gemacht und ihre Waren hier umgesetzt haben. Es blieb uns irgendwann nichts anders übrig, als die Lagermöglichkeiten hier zu erweitern und den Kaufleuten hier eine anständige Verpflegung und Unterkunft zu sichern.“

Lord Tehan nickte leicht. Er dachte kurz nach. Der neue König hatte in der Tat für neue Veränderungen im Land gesorgt, mit dem Beschluss, Gouverneure in den Städten einzusetzen. Auch wenn er Blackthorne persönlich nicht mochte, kam er nicht umhin, ihn für diese Entscheidung doch den nötigen Respekt zu zollen.
Nachdem sich die erste Aufregung darüber gelegt hatte und ein paar Gouverneure auf Nimmerwiedersehen verschwunden und durch andere ersetzt worden waren, die den verlassenen Posten angenommen hatten, kehrte langsam wieder Ruhe in das von Rebellionen gebeutelte Land ein. Der Frieden war nun wieder gesichert, nachdem nun auch der letzte Rest dieser ketzerischen Sekte niedergeschlagen worden war, die das Land für einige Wochen in Atem gehalten hatten.
Cove, Yew oder auch Trinsic hatten durch diesen anarchischen Zustand sehr gelitten. Es hatte genug Banditen gegeben, die die Handelsreisenden und fahrenden Kaufleute auf den Straßen überfallen und ausgeraubt oder sogar verschleppt hatten. Auch wenn der König Gesetze gegen dieses Treiben erlassen hatte und die Städte von der Steuer befreit hatte, für die Leute auf den Land änderte sich äußerst wenig. Sie waren nach wie vor der Willkür der Landesfürsten ausgesetzt und wurden mit hohen Steuern und Zöllen belastet. Es kam oft genug vor, dass ein Kaufmann die geforderten Abgaben nicht bezahlen konnte und seine Ländereien und Güter wieder eingezogen wurden. Ja es war gut, dass die Städte nun dazu übergegangen waren, sich selbst zu helfen und begannen, sich in Handelsbünden zusammenzuschließen.
Der Kaufmannstand hatte sich nun gut etabliert und es wurde möglich, auf eigene Faust Handel zu treiben und Vertreter in die Städte zu senden. Viele der erfolgreicheren Kaufleute wurden nun ansässig, bauten einen ständigen Markt auf, regelten von dort aus ihre Handelsgeschäfte und konnten ihre Handelstätigkeiten um ein Vielfaches ausweiten. Durch die Einführung von Gold, Schuldscheinen und Wechseln war der reine Tauschhandel zwischen Ware und Ware beinahe weggefallen. Die Großmärkte in den Regionen verloren zunehmend an Bedeutung, da sich der Handel immer mehr auf die Städte zentrierte. Eine weitere Folge davon war auch, dass diese wirtschaftlich gut gesicherten Stadtbewohner schnell in die höchsten Positionen und Ämter der Städte aufstiegen und die Stadt von ihnen beherrscht wurde. Dennoch standen die Kaufleute im Reich noch immer traditionell unter königlichem Schutz.

Lord Tehan wandte sich wieder an seine Tochter. Er setzte sich nun etwas bequemer in seinen Sessel und schlug die Beine übereinander.
„Seefahrer kommen viel rum und tratschen auch gerne. Dieser Umstand wird euch hier noch mal zugute kommen. Die großen Städte hier im Lande – Vesper, Minoc, Trinsic, Britain – sind bereits dabei, ihre Handelsbeziehungen untereinander auszubauen. Die übrigen werden bald folgen. Ein Verbleiben in der Neutralität würde der König bald als persönlichen Angriff gegen sein Statut nehmen, und das könnte der Siedlung möglicherweise mehr schaden als nutzen. Er würde euch des Hochverrats bezichtigen, das Land von der Krone genommen zu haben, und dann befürchte ich schlimme Folgen für alle. Mein Kind, ihr werdet hier nicht drum herum kommen, möglichst bald eine Entscheidung darüber zu treffen, welcher Stadt ihr loyal sein wollt. Der Siedlung würde es auch nicht schaden, wenn der Handel hier etwas mehr ausgebaut würde und dadurch mehr Gold in die leeren Kassen fließt.“
„Das ist wohl wahr“, erwiderte Kalifa nachdenklich, hakte aber dennoch ein.
„Trotzdem bin ich in dieser Hinsicht doch lieber etwas vorsichtiger, Vater. Viel Gold und Besitz ruft die Neider schnell auf den Plan, das weißt du so gut wie ich, und die Leute lieben hier keine Steuereintreiber.
„Da stimme ich dir zu, mein Kind. Es würde die Leute hier nur unruhig werden lassen und zu unnötigen Aufständen führen. Deshalb müssen wir sie hier langsam an das Thema heranführen.“
„Und wie willst du das anstellen? Du hast es hier mit einer Menge Individualisten zu tun, die ihre Freiheit lieber bis an die Zähne bewaffnet verteidigen würden, als auch nur einen Goldtaler an einen Steuereintreiber zu verschwenden. Die Leute lieben ihre Freiheit hier, und die würden sie auch mit Mann und Maus verteidigen.“
„Deshalb ist es wichtig, hier in der Siedlung für klare Regeln und Ordnung zu sorgen. Die Menschen müssen sich ihres handwerklichen Könnens bewusst sein, sie müssen wissen, dass sie gute Arbeit leisten können, die sich auch für gutes Gold verkaufen lässt, und das würde auch ihr Selbstbewusstsein weiter stärken. Und bei Gott… es gibt hier solche Leute. Der junge Nadim ist ein hervorragendes Beispiel dafür.“
Kalifa hörte ihrem Vater zu und verstand langsam, worauf er hinauswollte. Lord Tehan führte dann seine Gedanken weiter aus:
„Zunächst einmal ist es wichtig, das Handwerk hier anzukurbeln. Gutes und solides Handwerk ist der Schlüssel zu allen Erfolg. Wenn dieser soweit gestiegen ist, und die Kassen gut füllt, verschafft diese neue Wirtschaftskraft der Siedlung hier sogar noch den benötigten politischen Einfluss auf den König, mit der Möglichkeit besondere Genehmigungen und Privilegien einzuholen und diese Rechte von der Krone zu kaufen. Damit erreicht man den Status der „Reichsunmittelbarkeit“ und wäre rechtlich nur dem König – und allein dem König unterstellt! Eine zusätzliche Abgabe von Steuern an die Landesfürsten wäre damit hinfällig und könnte von ihnen auch nicht gefordert werden.“

Lord Tehan betrachtete seine Tochter nun prüfend und gab ihr einem Moment, das Gesagte verarbeiten zu können. Kalifa wirkte immer noch unsicher:
„Du meinst wir sollten damit anfangen, auf einer höher gelegenen Ebene als den Landesfürsten unsere Rechte abzutrotzen? War es dir deshalb heute so wichtig, das baldmöglichst von Charles de Morency der Rat eingeholt werden sollte?“ Lord Tehan nickte leicht.
„Ja, mein Kind. Genau deshalb habe ich darauf bestanden. Die Handwerker sollten schleunigst ihre Interessen hier koordinieren, festhalten und über die Ratsversammlung beschließen lassen und schriftlich darlegen.“
„Und wer soll diese Verträge dem König abtrotzen?“
„Das wirst du tun, Kalifa. Meine Söhne sind derzeit nicht greifbar für mich, was ich bedaure. Und du bist klug, äußerst wortgewandt und zudem sehr schön. Und du kämpfst wie ein Mann von Ehre, wenn es um die Rechte von Schwächeren geht. Allein das wird auf den König schon einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ehrlich gesagt…“er spielte seine Nachdenklichkeit nur etwas“ … wüsste ich keinen Mann, der gegen solche Reize nicht ganz unempfänglich wäre.“

Kalifa wirkte leicht geschockt bei diesem Worten. So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Aber Lord Tehan wirkte auch nicht auf sie, als wollte er sie nun bewusst in die Höhle des Löwen schicken. Sie betrachtete ihren Vater und sah dann, dass seine Augen einen schelmischen Ausdruck angenommen hatten und ein leichter Zug seine Mundwinkel umspielten. Die junge Frau schluckte den kurz aufkeimenden Anflug von Trotz nun wieder runter und sah ihren Vater nun direkt an und herausfordernd an:
„Du weißt aber schon, was für eine große Last du mir hier aufbürdest, Papa?“ fragte sie.
„Du weißt, ich würde mich viel wohler in meiner Haut fühlen, wenn ich wüsste, dass meine Familie hinter mir steht und dieses Vorhaben mit unterstützt. Die Taverne fordert meinen vollen Einsatz, und ich kann nicht überall sein.“ Lord Tehan schaute noch immer amüsiert auf seine Tochter.
„Mein liebes Kind…“ sagte er dann gedehnt, „du weißt, das ich gerade nichts besseres zu tun habe und mich sogar im Gegenteil fürchterlich in Skara Brae langweile? Wirklich, ich sehne mich wieder nach einer richtigen Aufgabe. “ Wieder schaute ihn Kalifa überrascht an. Lord Tehan schmunzelte, als er weiter sprach:
„Weiß du… mir gefällt es hier bereits so gut, das ich beschlossen habe, noch eine sehr lange Weile hierzubleiben. Ich erwarte jeden Moment die vom König unterschriebene Besitzurkunde dieses herrlichen Fleckchens Erde hier. Damit kannst du dir meiner Unterstützung schon einmal sicher sein.“
Kalifa fiel ihrem Vater jubelnd um den Hals. Dass dieses so angstvoll erwartete Gespräch einen solchen Ausgang genommen hatte, hatte sie niemals im Traum erwartet. Ihr Vater war da und würde sie unterstützen. Und sich war sich sicher, dass es auch die Leute in Westcliff tun würden. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in ihren Inneren aus, ein Gefühl der Befreiung. Sie war glücklich.
 
Das Salz des Meeres

Es war bereits am späten Abend, als Nadim zusammen mit Ne’Patinor die Tür zur Taverne des Blauen Ritters aufstieß, um dort eine Kleinigkeit zu essen und zu trinken, bevor sie sich dann zur Ruhe begeben wollten. Die Taverne war gut besucht und erfüllt von den lauten, aufgeregten Stimmen einiger Dorfbewohner, die sich schon hier eingefunden hatten, um bei etwas Geselligkeit und Musik den Tag ausklingen zu lassen. Natürlich war das Zusammenbrechen des großen Anlegesteges durch die Bohrwürmer das beherrschende Gesprächsthema. Viele waren noch entsetzt, mit welcher Plötzlichkeit der Steg in sich zusammengekracht war und mit welcher ungeheuren Vernichtungswut dieser eklige Wurm gewütet hatte.

Nadim und Ne’Patinor bahnten sich einen Weg zu dem Stammtisch in der hinteren Ecke, wo bereits die Herren De Morency, Urben Helms, Reent van Thaden und Theyde Boysen mit einer schön gezapften Maß Bier saßen und Pfeife rauchend den Tag Revue passieren ließen und setzten sich dazu.
„Das doch mal feiner Zug vom alten Dal’Maris, die Löhne zu übernehmen“ sagte Urben gerade. „Aber was ich noch nicht verstehe, warum er das schriftlich niederlegen will.“
„Du hast doch gehört, was er heute Mittag gesagt hat, Urben“ erwiderte Charles des Morency und nahm einen tiefen Zug aus seiner Pfeife.
„Das wir hier knapp bei Kasse sind und wir uns solche Ausgaben eigentlich nicht leisten können, pfeifen die Spatzen bereits von den Dächern. Der Lord gewährt uns sozusagen – wie nennt man das „ er überlegte einen Augenblick und sucht nach dem richtigen Wort, „ Kredit, ja einen Kredit, das war das Wort. Wenn er für uns solche Verbindlichkeiten eingeht, ist es nur zu verständlich, das er das Gold, das er investiert, gerne irgendwann mal wiedersehen möchte. Wenn ich ihn recht verstanden habe, will er das ohne Verzinsung machen, und da denke ich haben wir wirklich noch wirklich Glück gehabt.“
„Das hat auch was mit Sicherheit zu tun“ warf Theyde Boysen ein. „Seiner eigenen Absicherung und auch zu unserer eigenen. Und irgendwie schien er mir heute, als wenn er noch was Großes mit unserer feinen Siedlung hier vorhat.“
„Joar…“ meinte Urben nachdenklich, „ so wie der heute geschaut hat – so interessiert am allem hat der bestimmt noch was vor. Seit gut einer Stunde ist unsere schöne Wirtin nun schon drüben im Inn bei ihrem alten Herrn. Wat die wohl zu beschnacken haben?“
„Neugierig bist du gar nicht, was Urben?“ grinste Ne’Patinor, der sich das ganze in Ruhe mit verschränkten Armen zunächst einmal angehört hatte. „Da würdest du wohl am liebsten mal Mäuschen spielen was?“ Er nahm nun einen großen Schluck dunkles Bier aus seinen Humpen, wischte sich dann den Schaum vom Mund und wechselte dann das Thema.
„Joar, der alte Dal’Maris hat bestimmt was vor, der hatte ein richtiges Leuchten in den Augen. Irgendwie sah er mir ja nicht danach aus, als wenn ihm das ganze hier nichts anginge. Männer, ich glaube, dem gefällt das hier und der bleibt noch eine ganze Weile.“ Ne’Patinor stellte seinen Humpen nun auf den Tisch und blickte fragend in die Runde:
„Und…- wäre es denn so verkehrt, wenn hier mal jemand das Ruder in die Hand nimmt? Der ganze Dal’Maris Clan ist doch aus ein und demselben Holz geschnitzt, die drücken sich nicht vor Arbeit und Verantwortung. Das beste Beispiel führt diese hervorragende Taverne hier!“

Die Männer nickten zustimmend und saßen für einen kurzen Moment schweigend zusammen.
„Aye…“sagte Reent van Thaden dann nachdenklich, der bis dahin nur still zugehört hatte. „Der Siedlung würde das wirklich guttun. Wisst ihr, mir geht diese Geschichte mit dem Steg nicht so wirklich aus dem Kopf. Was ich nicht begreife ist, dass es so urplötzlich und so ganz ohne Vorwarnung passiert ist. Kaum auszudenken, was noch hätte passieren können.“
„Das Fatale ist ja einfach, das sich diese Biester nur im Salzwasser rumtummeln“ warf Theyde Boysen ein. „Süßwasser mögen sie nicht, im Gegenteil da machen sie sich ziemlich schnell wieder aus dem Staub.“
Plötzlich fing der Hafenmeister an zu schmunzeln, setzte sich gemütlicher hin, verschränkte die Arme vor seiner Brust und schaute alle in der Runde herausfordernd an:
„Wisst ihr Männer… wenn so ein Döspaddel nun nicht ausgerechnet die Zauberformel vergessen hätte, die man zu dem Krug hätte sagen müssen, dann wäre Meerwasser heute immer noch süß und nicht salzig.“ Theyde grinste nun alle fröhlich an.
„Hört, hört…“ lachte Reent, „mein zukünftiger Schwiegervater weiß bestimmt wieder was zu erzählen. Nur zu, Meister Boysen, lasst uns die Geschichte hören.“
„Ja, lass hören Theyde!“ riefen nun auch die übrigen. „Zeit für eine gute Geschichte!“

Während die Männer nun in freudiger Erwartung eine bequemere Haltung am Tisch annahmen, um der Geschichte zu lauschen, nahm Theyde noch einen Schluck aus seinen Weinkelch und sammelte sich kurz.
„Das Märchen kommt aus dem fernen Asien und handelt davon, wie das Salz in das Meer gekommen ist.“ Er räusperte sich noch mal kurz, setzte sich bequem hin, den Rücken an die Stuhllehne gedrückt. Dann fing er an zu erzählen:


Das Märchen vom Salz

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebten in einem kleinen Fischerdorf zwei Brüder. Sie waren einander sehr verschieden. Der Ältere hieß Chen und war ein böser und habgieriger Mensch, nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht. Sein jüngerer Brüder Lin dagegen war ein mutiger und sehr fleißiger Fischer.
Jeden Morgen fuhr der fleißige Lin mit seinem Boot hinaus aufs Meer zum Fischen. Doch seine Fischernetze waren sehr alt und er besaß kein Geld, um sich Neue zu kaufen. Sobald sich Fische darin verfingen, zerrissen seine Netze und nicht selten verlor er den gesamten Fang. So lief es eine ganze Weile.

Schließlich war Lin so verzweifelt, dass er nicht mehr richtig schlafen konnte. Eines Nachts wälzte er sich wie häufig schlaflos im Bett, da erschien ihm ein alter Mann:
“Lin..“, sagte er „…Du hast Geduld und Mut bewiesen. Zur Belohnung schenke ich dir diesen Krug. Gib Acht auf Deine Worte, sprach der Alte. Du musst sagen: „Krug gib Salz!“ Dann füllt er sich mit Salz. Wenn Du genug hast, sprich: „Halt ein, hab Dank!“- denke immer an diese Worte.”

Lin bedankte sich und nahm den kostbaren Krug an sich. Er tat, wie ihm gesagt. Jeden Tag besprach er von nun an den Zauberkrug und dieser füllte sich mit Salz so oft er wollte. Lin verkaufte es und wurde reich.
Vom Neid getrieben beobachtete Chen das Treiben. Er gönnte seinem Bruder Lin dieses Glück nicht. Eines Tages stahl er den Krug, sprach die Zauberformel und fuhr mit seinem Boot aufs Meer hinaus. Der Krug hörte jedoch nicht auf zu fließen. Das Boot füllt sich mit Salz und wurde immer schwerer. Chen bemerkte dies und schrie er in höchster Not zu Hilfe. Er fluchte und bettelte, aber es half nicht. Schließlich versank er mit dem Boot im Meer, denn er kannte nur den ersten Teil der Zauberformel.

Seit diesem Tage liegt der Krug auf dem Meeresgrund und macht das Wasser salzig.*



Es war still am Tisch geworden. Das war immer so, wenn Theyde eine gute Geschichte erzählt hatte, die die Männer noch nicht kannten und die bei ihnen auch erstmal sacken musste. Plötzlich aber zuckte Nadim zusammen und schlug vor Aufregung mit der Faust auf den Tisch.
„Das doch die Idee…“ stieß er hervor, „wieso ist noch keiner früher auf den Gedanken gekommen?“ Nadim wurde immer aufgeregter und konnte kaum noch still auf seinen Stuhl sitzen.
„Mensch, was haust den Tisch denn?“ sagte De Morency erschrocken, der genau neben Nadim saß und der seinen bei dem harten Schlag hochgesprungenen Bierkrug gerade noch hatte auffangen können.
„Das Salz…“ Nadim war kaum zu bremsen, „das Salz ist die Lösung! Wenn man vom Salzverkauf so reich werden kann wie Lin im Märchen, warum machen wir das nicht? Warum stellen wir es nicht her und verkaufen es? Da draußen liegt ein Schatz, den wir uns nur noch holen müssen!“

[*Quelle: Ein asiatisches Märchen. Es gibt noch ein paar andere, sehr ähnliche Geschichten, die erzählen, wie das Salz ins Meer kam, aber diese hier war die kürzeste Version und für ein Tavernenmärchen genau richtig:cool: ]
 
Die Stille der Tiefe

Es war die Zeit nach dem Mahl des Königs. Wie jeden Tag saß Neptomuk der Dritte auf seinen Thron, schnarchte was das Zeug hielt und bewegte dabei seinen Kopf und sein Zepter auf und nieder, so dass jeder, der ihn nun gesehen hätte, sich wunderte, wem er denn nun eigentlich zunickte. Er hatte wie immer gut gespeist und war von seinen Regierungsgeschäften so ermüdet, dass er noch auf seinen Thron sitzend fest eingeschlafen war und nichts mehr mitbekam, was sein munteres Völkchen in diesen Mußestunden so trieb. Das war auch gut so, denn hätte er gewusst, was manche für einen Schabernack trieben, hätte ihn das womöglich noch erzürnt. Es war die Zeit, in der die Bewohner des Palastes machten was sie wollten.
Die Nachricht, dass der König seine Mittagsruhe hielt, verbreitete sich schnell im gesamten Palast. Aus vielen verborgenen Grotten öffneten sich nun die Türen und viel neugieriges Meervolk drängte sich nach draußen. Auch Siadin nutzte diese kostbare Stunde, um für sich zu sein. Sie wollte zum Friedhof der Schiffe, nachdem sie vor einigen Tagen gehört hatte, das erneut ein Schiff untergegangen war, und sie war recht neugierig auf das, was sie dieses mal entdecken würde.
„Malou? Wo bist du denn Malou?“ Siadin rief nach ihren Delphin, der auch gleich herbeikam und sie freudig begrüßte. Schon lange hatten die beiden keinen gemeinsamen Ausflug mehr in die Weiten des Meeres unternommen. Die Meerjungfrau schwamm an seine Seite und drückte dem Tier die große Rückenflosse nieder. Malou wusste nun Bescheid und wartete noch einen Moment, bis sich Siadin an seiner Flosse festhielt. Dann aber schwamm er gleich los und immer weiter tiefer nach unten, so tief bis es nicht mehr ging.

Tief unten auf dem Grund des Meeres lag in einem Riff das, was von oben herunterfiel. Die meisten Schiffe sanken hier an dieser Stelle, und so hatte sich bereits eine große Anzahl Wracks angesammelt. Malou brachte Siadin rasch voran, und schon bald hatten sie die ersten gesunkenen Schiffe erreicht. Einige waren unversehrt gesunken und noch gut erhalten, andere dagegen auseinander geborsten und zeigten bereits ihr nacktes kahles Gerippe. Es war schnell eine ganz eigene Welt für viele der Bewohner des Meeres geworden, ein Lebensraum für zahlreiche Fische, die in den strömungsarmen Wracks ausreichend viele Nischen, Röhren und Räume zum Verstecken vor ihren Feinden fanden, die es in natürlich gewachsenen Riffen nicht in so großer Anzahl gab.
Es war eine völlig andere Welt als das Leben im Korallenriff, wo sich die kleinen bunten Fische wie Samtanemon, der Clownfisch zwischen den zierlichen Steinkorallen tummelten. Ein Wrack war das Paradies der Fischschwärme und der großen Fische wie Makrelen, Thunfische oder Barracudas. Ja, sogar Haie und Rochen fanden hier eine neue Bleibe, gab es doch für sie Nahrung im Überfluss, die ihnen fast von allein in das Maul schwamm. Die Strömung hatte im Laufe der Jahre viele Muscheln und Seepocken, Schwämme, Würmer, ja sogar Weich- und Hornkorallen herangetragen, die sich überall auf den versunkenen Schiffen angesiedelt hatten. Hier tummelten sich fröhlich Langusten und andere Krebse zwischen den bizarren Gebilden und hier machten die giftigen Muränen und Skorpionfische Jagd auf sie. Hier sagte man auch, würde man noch weiter in den dunkleren Orten des Friedhofes die Meerhexe finden.
Siadin erschauerte kurz bei dem Gedanken daran, hielt sich wieder fester an der Rückenflosse von Malou fest und lenkte ihn durch die Schiffsgerippe wieder die sanften sandigen Hügel, die vor dem Friedhof lagen. Sie fanden große, verschnürte Ballen mit kostbaren Waren, die hier unten niemand recht gebrauchen konnte. Blinkende Haufen von Gold- und Silbermünzen, ohne die die Menschen nicht glauben leben zu können. Daneben lagen die Gerippe von verwesten Leichnamen, guter Leute Kinder, die hier ein ewiges Grab gefunden hatten und nun erdulden mussten, dass die kleineren Fische um sie herum oder gar durch sie hindurchschwammen. Das machte Siadin aber keine besondere Freude, sie gab Malou dann ein Zeichen, zunächst einmal nur weiter geradeaus zu schwimmen.

Hinter einer großen, geöffneten Kiste hörte Siadin plötzlich Geklimper und ein fröhliches Gekicher. Neugierig schwamm sie näher und blickte über den Rand der Kiste hinweg auf ein kleines blaues fischähnliches Wesen mit wilden strubbeligen Haaren. Eine Merune aus Korallavia, dem Land König Triatons und Prinz Narautilos saß dort, führte lustige Selbstgespräche und spielte munter mit den Goldstsücken aus einer kleinen Schatulle.

„Ui das war wieder ein schönes Fest“ sagte Meruna gerade, „es gab genug für alle zu essen, und so lecker.“ Sie schnalzte genüsslich bei mit der Zunge bei der Erinnerung und warf wieder einige Goldstücke hoch.
„Da war sogar für „Il Barone“ und seine Haischergen zu viel. Der alte Sando war so voll, das nur noch gerülpst und einen Furz nach dem anderen gelassen hat. Was für ein Blasengewimmel! Und dieser köstliche Duft!“ Das kleine Wesen kicherte wieder vergnügt bei der Vorstellung. Es ahmte dann mit einen überspitzt affektierten Tonfall die Stimme des alten weißen Hais nach, der die Bande anführte:
„Sando… sollst du denn mit den Essen spielen? Sowas macht man doch nicht! Und überhaupt was tust du hier gerade? Kannst du nicht für deine Verdauung sorgen? Das ist ja widerlich…“ Wieder flogen fröhlich einige Goldmünzen durch das Wasser.
„Na ja… wie gut wie gut, das sie noch nicht bemerkt haben, was noch oben an der Oberfläche schwimmt – so ganz allein.“
Siadin hatte sich in der Zwischenzeit neben die Kiste gesetzt, die Ellenbogen auf den Rand abgestellt und das Kinn auf die Hände gestützt, dem Gespräch amüsiert lauschend. Im Gegensatz zu dem Meervolk waren die Fischwesen aus Korallavia sehr wohl in der Lage, die Sprache der Fische zu verstehen. Die letzte Bemerkung ließ die Meerjungfrau aber aufhorchen.
„Ganz allein?“ fragte sie unvermittelt über die Kiste hinweg. „Wer ist denn da ganz allein?“
Erschrocken blickte Meruna nun nach oben und bemerkte nun, dass ihr jemand zugehört hatte.
„Oh… du bist es nur, Siadin…“ sagte sie dann. „Ich… ich bin hier allein! Das siehst du doch.“
„Nein, nein!“ kam es zurück, „Du sagtest eben, dort oben an der Oberfläche wäre etwas allein. Also…“ ein fragender Blick aus einem freundlich lächelnden Gesicht traf die Merune, „wer oder was ist da, von dem die Haie noch nichts wissen sollen?“

Meruna zögerte erst noch einen Augenblick. Sie wollte ihr kleines Geheimnis lieber für sich behalten, aber vielleicht war es doch gut, die Meerjungfrau hier einzuweihen. Sie winkte Siadin näher an sich heran und sagte dann leise:
„Da schwimmt was Hübsches! Ein Mensch!“
„Ein Mensch?“ sagte Siadin verblüfft und ungläubig. Die kleine Merune nickte dann.
„Ein Mensch, ja. Ein unendlich hübscher Mensch!“ Sie zog Siadin noch näher heran und es klang nun verschwörerisch, als sie weitersprach.
„Nicht nur ein hübscher Mensch, sag ich dir… ein hübscher Mann! Lebendig! Und viel zu schade um hier sein Leben auszuhauchen.“ Siadin sah die Merune weiterhin fragend an und konnte kaum glauben was sie da hörte, während Meruna munter weiterplapperte:
„Für Prinzessin Tahita wäre er ja genau das Richtige, und die würde auch keinen Moment zögern, ihn sich zu angeln. Aber irgendwie wäre das nicht richtig… jawoh! Da bin ich recht froh, das Tahita davon noch nichts gehört hat. Die bringt ihn nur um. Nein Siadin“ Meruna sah die Freundin dann mit einem betrübten Blick an,
„Don Sando macht mir da Sorgen. Wenn der wieder Hunger hat, und diesen leckeren Burschen da oben findet… dann ist’s vorbei… „ sie seufzte leise…“ dann hat die Fischwelt und auch die Menschenwelt wieder einen Traum weniger.“
„Du meinst, wir sollten ihm helfen?“ fragte Siadin nun, die sich schon arg wunderte, das dieses kleine Fischwesen ihr Herz scheinbar an diesen Menschen verloren hatte. Fischwesen machten sich im allgemeinen wenig aus der Welt da oben, aber dieser Mensch musste wohl etwas an sich haben, was der kleinen Merune wohl imponiert hatte. Die Meerjungfrau konnte grad nicht anders als amüsiert zu lächeln.
„Das sollten wir, ja! Und zwar schnell.“ Meruna nickte eifrig. „Menschen sind so komische Wesen. Wer oder was auch immer sie auf magische Weise auf das Wasser treibt, ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass sie das Wasser zum Leben brauchen – das süße Wasser. Hier gibt es aber kein süßes Wasser!“

Siadin betrachtete Meruna nachdenklich. Sie war schon lange nicht mehr auf der Oberfläche gewesen. Der Meerkönig hatte es verboten, und wenn er davon Wind bekam, hatten nicht nur die Übertreter des Verbotes unter dem Zorn zu leiden. Aber nun wurde die Sehnsucht so übermächtig, das Siadin dieses Gefühl nicht mehr unterdrücken wollte. Ja, manchmal war ihr Name auch eben Prinzessin Übermut.
Sie rief nach Malou, der sich derweil anderweitig vergnügt hatte und auch sogleich heranschwamm. Die Lage wurde ihm kurz berichtet, und Siadin bat ihn dann freundich, zusammen mit Meruna an die Oberfläche zu schwammen. Nach einigem Zögern willigte der Delphin dann ein, nachdem die Meerjungfrau ihm versprechen musste, nichts von diesen dem Abenteuer zuhause zu erzählen. Siadin versprach ihn das, nahm Meruna unter sich, und dann glitten die beiden, an der Rückenflosse des schnellen Säugers festhaltend, schnell wie ein Blitz senkrecht nach oben.

Sie erreichten schnell die Wasseroberfläche. Als sie auftauchten, waren Meruna und Siadin zunächst erstmal wie betäubt von dem gleißenden Sonnenlicht und der Luft. In einiger Entfernung schaukelte das provisorische zusammengebastelte Floss, auf dem Jacaran auf dem Meer trieb. Vorsichtig schwammen die beiden näher heran und wagten einen Blick darauf.
„Ist er nun tot? Er rührt sich ja gar nicht mehr“ fragte Meruna leise, die Jacaran dann unter dem Segeltuch erblickt hatte.
„Nein, er schläft nur“ entgegnete Siadin ebenso leise, „aber er wird bald aufwachen. Lass uns solange es geht, hier in der Nähe bleiben und dafür sorgen, das er diese Reise weiter gut übersteht!“
 
Schiffsbruch (Teil 3) – Wasser

Es musste bereits früher Nachmittag sein. Wie lange er geschlafen hatte, wusste er nicht. Er war plötzlich aufgewacht, weil es etwas kühler geworden war und ein leichter Wind das Segel ein wenig blähte, unter dem er lag. Langsam öffnete Jacaran die Augen, blinzelte gegen das schützende Segeltuch und lauschte einem Moment dem schlürfenden Geräusch der leichten Wellen, die gegen sein provisorisches Floß platschten. Seine Zunge klebte an seinen pelzig trockenen Gaumen und er hatte Durst. Unsagbaren Durst.

Erst jetzt wurde ihm wirklich klar, in was für einer völlig bizarren Lage er sich befand. Er war mitten auf dem Meer, umgeben von Millionen Litern von Wasser, das er aber nicht trinken konnte, da es völlig versalzen war. Ohne jegliche Orientierung durch die Linie einer Küste und ohne jegliches Zeitgefühl. Es war einfach verrückt. Tief in seinen Inneren warnte ihn etwas davor, das salzige Wasser doch noch zu trinken. Es würde ihn austrocknen. Er würde noch mehr Durst bekommen, es würde ihm irgendwann um den Verstand bringen. Jacaran schluckte sein Verlangen und den übergroßen Drang herunter, und zwang sich, ruhig zu bleiben.
Aber wo sollte er hier Wasser herbekommen, das er auch trinken konnte, ohne seinen Körper und seinen Verstand zu schaden? Jacaran zerbrach sich den Kopf und versuchte sich zu erinnern, was er von Schiffsbrüchen aus den Erzählungen seiner früheren Kameraden her noch wusste, aber wenn diese je schiffsbrüchig gewesen waren, war das immer in der Nähe der Küsten gewesen. Irgendwann spülte das Meer sie zusammen mit dem Stück Treibgut, an dem sie sich festgehalten hatten, einfach an den Strand. Aber hier war kein Land, hier befand er sich dem offenen Meer und hatte nicht die geringste Ahnung wie weit die nächste Küste von ihm entfernt war. Alles was ihn umgab, war dieses verfluchte salzige Nass, und eine brennend heiße Sonne, die von oben zusetzte.

Jacaran ballte die Hände zu Fäusten und blieb noch eine Weile so unter dem Segeltuch liegen, bis die erste Welle der Verzweiflung verebbt war und sein Atem wieder ruhiger ging. Sein Blick hing starr auf den sich leicht bewegenden Gewebe des gewachsten Segeltuches, als er plötzlich etwas entdeckte, das ihn zwang genauer hinzusehen. War das etwa ein Tropfen, der da vor seiner Nase hing? Vorsichtig streckte er einen Finger aus und nahm ihn auf die Spitze und stippte mit der Zungenspitze vorsichtig dran. Es schmeckte …süß…nicht salzig. Eine freudige Erregung durchfuhr ihn. War das der Funken Hoffnung, auf den er gewartet hatte? Gab es eine Möglichkeit, das so lebenswichtige süße Wasser zu bekommen? Vorsichtig suchten seine Augen die wächserne Plane nach weiteren Tropfen ab und fanden auch noch ein paar mehr, die er genauso vorsichtig abnahm und an seine trockenen Lippen führte.

Der leichte Wind hatte wieder nachgelassen, wieder brannte die Sonne unerbittlich vom Himmel. Unter der Plane wurde es stickig, und irgendeine Unebenheit auf der Planke, auf der er lag, drückte ihn schmerzhaft in die Schulter. Vorsichtig drehte Jacaran den Kopf und legte sich dann auf die Seite, den Blick auf das Wasser gerichtet. Dann machte er eine Beobachtung. Es war so heiß, das ein leichtes Flimmern auf der Oberfläche des Wassers zu sehen war. Aber dieses Flimmern sah eher aus wie ganz feiner Dampf… wie Nebel. Und war denn Nebel nichts anderes als Millionen kleinster Wassertröpfchen – süß schmeckender Wassertröpfchen?

Ein unregelmäßiges Klopfgeräusch riss ihn plötzlich aus dann aus seinen Gedanken. Jacaran lauschte verblüfft und robbte sich dann langsam in Richtung des Geräusches über sein Floß an den Rand. Zu seiner großen Überraschung sah er dort einen alten hölzernen Eimer, der seinen Weg wieder zurück durch die Wellen gefunden und sich am Floss verkeilt hatte. Er kniff sich hart in den Oberarm, weil er glaubte zu träumen, aber das war kein Traum. Der Eimer war da, und darin befand sich - Jacaran konnte es kaum glauben – ein weiteres kleineres Gefäß aus Holz - ein kleiner Becher. Er streckte schnell seine Hand aus und zog den Eimer nun vorsichtig auf die Planken. Es war so unglaublich, und er kniff sich gleich noch einmal, bis er den Schmerz nicht mehr fühlte. Das erste Mal nach langen, langen Jahren, in denen er zu den Göttern gesprochen hatte, mussten diese seine Gebete nun endlich mal gehört haben. Stumm schickte er ein paar Worte der Dankbarkeit in den Himmel. Nun hatte er etwas, womit er das wenige kostbare süß schmeckende Wasser unter der Segeltuchplane auffangen und sammeln konnte.

Er blickte zum Himmel. Noch immer stand die Sonne hoch und sengend heiß unter einem fast wolkenfreien Himmel. Wieder dachte er über die Tröpfchenbildung unter der Plane nach, als es ihm dann wie Schuppen von den Augen fiel. Natürlich, Verdunstung hieß das Zauberwort. Das Wasser war einfach verdunstet und hatte sich dann wie der heiße Dampf aus Mutters Kochtöpfen, der sich in der Küche an den Fliesen niederschlägt, hier an der gut gewachsten und mit Öl getränkten Segeltuchplane abgeschlagen. Jacaran überlegte nun fieberhaft. Dann hatte er eine Idee.
Er suchte sich einen kleinen, aber passenden Fetzen Segeltuch, der gerade so eben über den Eimer passte, und eine ebenso lange, aber dünne Seilschnur. Den Eimer füllte er ein paar Finger hoch mit Salzwasser, stellte den kleinen Becher in die Mitte und kontrollierte, ob das eingefüllte Meerwasser auch nicht wieder in den Becher schwappte. Als dem nicht so war, spannte er den Fetzen Segeltuch mit der dünnen Schnur über den Eimer und verkeilte diesen gut zwischen zwei Planken in der sengenden Sonne. Ein kleines Stück Eisen, das er aus einer der Planken löste, wurde dann auf die Mitte der gespannten Plane gelegt, so dass durch das Gewicht eine kleine Vertiefung entstand.

Jacaran betrachtete für einen Moment sein Werk. Er wusste nicht, ob es funktionieren würde, aber er gab die Hoffnung daran nicht auf. Wenn alles gut ging, würde das Meerwasser in dem Eimer nun kondensieren, sich an der gespannten Plane niederschlagen und über die Vertiefung nach unten in den Becher tropfen. Die Menge würde vielleicht nicht sehr hoch sein, aber sie würde ihn vorerst am Leben erhalten. Alles was er tun konnte war nun noch abzuwarten. Er seufzte leise. Abwarten. Warten – auf die Dinge die noch kommen konnten… unvermeidlich, unabänderbar. Und Warten - auf Regen!
 
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