Branwir
Bürger
Der Tausch
Branwir wollte gerade sein Haus verlassen, als jemand von draußen laut an der Haustür pochte.
„Wer auch immer das ist, er wird sich kurz fassen müssen.", dachte Branwir und zog die letzten Bänder seiner Uniform zu. Es war Zeit, sich auf den Weg nach Vesper zu machen und seinen Dienst anzutreten. Branwir hoffte, dass er endlich einen Hinweis auf den Verbleib des flüchtigen Verbrechers erhalten würde, den die Stadtwache nun schon seit Monaten suchte. Allmählich machte er sich aber keine Hoffnungen mehr, zu lange war die Spur schon kalt.
Er fuhr mit der Hand über seinen Hals, dort, wo er früher sein Amulett getragen hatte.
„Ob der Mistkerl es immer noch bei sich hat...?"
Branwir wurde von erneutem Klopfen aus seinen Gedanken gerissen und einer Stimme, die dem Geklopfe energisch Nachdruck verlieh.
„Ist jemand zu Hause?!"
Branwir kannte die Stimme nicht.
„Wahrscheinlich nur wieder ein ungeduldiger Kunde, der nicht warten kann, bis mein Vater sein Geschäft öffnet.", dachte sich Branwir und öffnete die Tür.
„Seid gegrüßt, was kann ich zu so früher Stunde für euch tun?"
Er musterte die Person vor seiner Tür nur beiläufig. Eigentlich war er immer noch in Gedanken bei dem Flüchtigen.
„Seid ihr Branwir?"
Der Mann vor seiner Haustür sprach mit einem leichten Akzent, der ihm bekannt vorkam.
Als er ihn näher betrachtete, die leichte schimmernde Aura bemerkte und die spitzen Ohren sah, wurde seine Vermutung bestätigt, dass ein Elf vor ihm stand.
„Verzeiht die Störung...aber seid ihr Branwir?" Wiederholte der Elf die Frage.
„Aye...das bin ich. Und wer seid ihr, wenn ich fragen darf?"
Der Elf deutete eine höfliche Verbeugung an, bevor er antwortete.
„Es freut mich, euch kennenzulernen. Mein Name ist vorerst ohne Belang...", antwortete er geheimnisvoll. „...viel wichtiger ist der Grund für mein Erscheinen."
„Der da wäre....?"
Branwir verschränkte die Arme vor der Brust. Irgendwie erinnerte ihn das geheimnisvolle Getue des Fremden an Garon, was in seiner Magengegend ein unangenehmes Gefühl auslöste.
„Ich soll euch mitnehmen.", antwortete der Elf ohne mit einer Wimper zu zucken.
„Ähm...bitte was?"
Branwir blickte den Elf entsetzt an. Er ahnte, um was es ging.
„Seid ihr hier wegen der Prüfung hier...ist es das?"
Der Elf zog einen Brief aus seiner mit fremdartigen Symbolen bestickten Jacke hervor.
„Von einer Prüfung wurde mit nichts gesagt, aber lest am besten das hier. Vielleicht bringt das etwas Licht ins Dunkle, wie ihr Menschen zu sagen pflegt."
Branwir nahm ihm den Brief ab und winkte ihn herein.
Er blickte auf das Siegel, das sorgsam gefaltete Schriftstück verschloss und das Ziehen in seinem Magen wurde stärker.
Branwir brach das Siegel und entfaltete das Schreiben, das seine Fragen beantworten sollte.
Er hatte die Schrift schon einmal gesehen, es war die Handschrift von Nadines Vater.
„Werter Branwir,
ich hoffe, Ihr seid wohlauf.
Seid unserem letzten Treffen ist viel Zeit vergangen. Trotzdem habe ich Euch nicht vergessen und das, was ich Euch damals gesagt habe. Ich habe viel über Euch nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, Euch Gelegenheit zu geben, Euch unter Beweis zu stellen.
Auch wenn Eure Anwesenheit ursprünglich der Auslöser für das Unheil war, das meiner Tochter widerfahren ist, habt Ihr mehr für die Rettung meiner Tochter getan, als es manch anderem erfahreneren und besser ausgebildeten Mann möglich gewesen wäre.
Deshalb habe ich beschlossen, dass Ihr als das ausgebildet werdet, was die Bestimmung für euch vorgesehen hat.
Der Mann, der Euch meinen Brief übergeben hat, wird Euch zu mir geleiten, an einen Ort, der tief in Ilshennar verborgen liegt.
Es wird Euch während Eurer Ausbildung nicht gestattet sein, eure Familie oder Freunde zu sehen. Auch werdet ihr unsere Seldi in dieser Zeit nicht sehen dürfen."
Branwirs Herz krampfte sich zusammen als er diese Zeilen las. Ob ihr Vater von seiner Beziehung zu Nadine wusste? Vielleicht war es alles nur ein abgekartetes Spiel, um einen Vorwand zu finden, sie endlich zu trennen. Er hatte sich sowieso nie vorstellen können, dass ihr Vater sie die ganzen Jahre über unbeobachtet unter den Menschen hatte wandeln lassen.
„Ich werde Nadine bei gegebener Zeit alles erklären. Sie wird selbstverständlich weiterhin beschützt werden, auch wenn Ihr in Ilshennar seid. So war es schon immer.
Wenn es wirklich immer noch Euer Wunsch ist, ein Wächter zu werden, begleitet den Mann, den ich zu Euch schickte.
Und Ihr müsst es sofort tun.
Ich weiß, dass das für Euch sehr unvorbereitet kommt, aber Ihr müsst euch entscheiden.
Ihr erhaltet dieses Angebot nur einmal von mir.
Wie auch immer Ihr Euch entscheiden werdet - ich wünsche Euch die Kraft, das Richtige zu tun."
Der Brief wurde mit der geschwungenen Unterschrift von Nadines Vater beendet. Darunter zierte das Symbol mit dem Einhorn das Papier, das Nadine stets um ihren Hals trug.
Der Überbringer der überraschenden Nachrichten stand still in einer Ecke des Raumes und wartete geduldig.
„Verdammt...", knirschte Branwir mit den Zähnen und legte den Brief zu Seite.
„Ihr wirkt nicht gerade erfreut, wenn ich das so sagen darf.", sagte der Elf mit ruhiger Stimme.
Für diese Bemerkung hätte Branwir den Elf am liebsten am Schlafittchen gepackt und ihn wie einen alten Mantel an den Kleiderhaken der Garderobe gewuchtet, aber er Bote wusste es eben nicht besser.
Wie sollte der ahnungslose Elf auch wissen, dass es Branwir in diesem Moment innerlich zerriss.
„Ich habe keine Wahl...", flüsterte Branwir.
„...es muss sein...es muss für uns sein..."
Branwir wandte sein angespanntes Gesicht dem Elf zu.
„Ich werde mit euch kommen, lasst mich nur kurz meine wichtigsten Sachen zusammensuchen."
„Ihr werdet nicht viel brauchen.", entgegnete der Elf lächelnd. „Es wird euch in Ilshennar an nichts fehlen, man wird gut für euch sorgen."
Branwir wusste nicht recht, was er dazu sagen sollte und nickte nur.
Er ging hinauf in sein Zimmer und entledigte sich seiner schweren Rüstung.
„Das war ein noch kürzerer Dienst als in der Garde von Trinsic. Ich hoffe nur, dass Nadine Lady Robin alles erklären wird, wenn sie von alledem hört.", dachte Branwir als sein Blick auf das Wappen Vespers fiel, das seine Rüstung schmückte.
Bevor er mit dem Elf das Haus verließ, kritzelte Branwir noch ein paar Zeilen für seinen Vater auf ein Stück Papier, mit der Bitte, sich nicht zu sorgen und Nadine zu sagen, dass er sich bald melden würde.
Draußen standen zwei prächtige, große Pferde, die fertig gesattelt auf sie warteten.
Branwir hielt kurz inne bevor er das für ihn bestimmte Pferd bestieg und blickte zur kleinen Schmiede rüber, die er und sein Vater im Vorhof errichtet hatten.
Branwir atmete tief ein. Die Stimmen in seinem Kopf wurden wieder lauter. Er schloss die Augen und versuchte, sich zu konzentrieren.
Vielleicht würden ihn die Elfen auch lehren, wie er endlich die Stimmen seiner Ahnen beherrschen kann.
Er konnte sich seine Chancen ausmalen, jemals ein Wächter zu werden, wenn er das Problem nicht in den Griff bekommen würde.
Aber es würde schon werden. Irgendwie hatte er es bisher immer geschafft.
Er wusste nur eines mit Sicherheit, während er seine Augen von der Schmiede abwandte - es war endgültig an der Zeit, den Hammer gegen das Schwert zu tauschen...