Bestrafung
Vor acht Jahren...
Es war ein sonniger Tag in der Hauptstadt des Landes. Eine Dame von hohem Stand schlenderte mit ihrem Gatten und einer Dienerin durch das Hafenviertel.
Es war Markttag. Sie begutachtete den tagesfrischen Fang, den die Fischer an ihren Ständen feilboten und schwatze vergnügt mit verschiedenen Leuten, die sie traf.
Plötzlich stand ein kleiner Junge vor ihr und reichte ihr ein kostbar besticktes Taschentuch entgegen.
„Ihr habt da etwas verloren“, sagte der Junge mit schüchterner Stimme.
„Oh, mein Taschentuch. Vielen Dank junger Mann.“ Die Dame nahm ihm das Taschentuch aus der Hand und musterte mit einem Lächeln den kleinen Jungen.
Er mochte vielleicht zwölf Jahre alt sein und hatte lange braune Haare, die etwas verfilzt waren. Seine Kleidung war an vielen Stellen geflickt oder hatte Löcher, außerdem sah sie sehr ungepflegt aus – offenbar handelte es sich um einen Strassenjungen.
„Ach Schatz sieht nur, ist das nicht ein netter Junge?“ Die adelige Dame blickte ihren Gatten an, der bei dem Anblick des heruntergekommenen Jungen nur die Nase rümpfte. Er gehörte nicht zu dem Kreis der Menschen, mit dem er sich normalerweise abgab, geschweige denn, überhaupt etwas zu tun haben wollte.
Die Dame erwiderte die Geste ihres Mannes mit einem vorwurfsvollen Seufzen und zog ihre kleine Handtasche hervor, um den armen Jungen eine Münze für seine Aufmerksamkeit zu geben.
Aber...da war kein Gold mehr...
Etwa eine viertel Stunde später saßen in der Kanalisation der Stadt zwei kleine Jungs über einen Beutel voll Gold gebeugt und rieben sich vor Freude die Hände.
Sie saßen auf einer morschen Kiste, die wer weiß wer vor Jahren hier entsorgt haben muss und zählten die erbeuteten Münzen im Schein einer unruhig flackernden Fackel.
Neben dem kleinen Jungen mit dem braunen Haar saß dessen Freund. Dieser war etwas größer als er, ein wenig stämmig und hatte blonde, zerzauste Haare.
Der stämmige Junge hielt die Beute des Tages in seinen Händen und lächelte breit.
„Hey...weißt du was? Wir werden einen Teil des Goldes gleich jetzt ausgeben. Der alte Geizhals wird uns wieder nichts abgeben, das wette ich.“
„Bist du bescheuert? Du weißt was uns droht, wenn er das mitbekommt?“ Der kleine Junge war sichtlich wenig begeistert von der Idee seines Freundes.
„Ach komm, sei nicht so ein Langweiler...“, schimpfte der stämmige Junge und ließ das Gold aus seiner Hand in den Beutel klimpern. „Er wird das nie herausbekommen!“
Plötzlich wuchs vor ihnen ein langsam größer werdender Schatten auf dem Boden. Sie fuhren beide erschrocken herum.
„Ach...ich das so?“ Die böse Grimasse, die ihnen entgegen grinste, war ihnen wohl bekannt.
„Meister...Meister...ich“, stammelte der stämmige Junge. „Ich habe nur einen Scherz gemacht.“
„Das hörte sich in meinen Ohren aber überhaupt nicht danach an“, erwiderte der große Mann, der sich ihnen so vollkommen lautlos genähert hatte. Er packte den stämmigen Jungen beim Arm und riss ihn von der Kiste, wobei der Junge ins Straucheln kam und auf den Boden knallte.
„Bitte...Meister...es war nur Spaß...“, winselte der Junge.
Der Mann antwortete nur mit einem hämischen Grinsen und blickte den anderen Jungen an.
„Es wird mal wieder Zeit für ein Exempel oder meinst du nicht?“
„Meister...er meinte es doch nicht so...“, flüsterte der kleine Junge entschuldigend und blickte dabei seinen Freund an, der verängstigt zitternd im eisernen Griff des großen Mannes neben ihm stand.
Er blickte den großen Mann an, den sie und die anderen Kinder immer nur mit Meister ansprachen. Seinen genauen Namen wusste niemand von Ihnen. Er war vielleicht um die dreißig Jahre alt - schwer zu schätzen für ein Kind, dass gerade mal zwölf Jahre alt war -, hatte krause lange, schwarze Haare und ein dunkles vernarbtes Gesicht. Woher diese Narben stammten wusste niemand. Manche der Kinder behaupteten, dass er sich die Narben im Kampf mit einem mächtigen Magier zugezogen habe, andere wiederum sagten, dass er auf der Flucht vor dem Gesetz in eine Falle geraten war, man ihn aus Angst aus seinem Versteck ausräuchern wollte und er dabei nur mit knapper Not entkommen konnte. Und das waren nicht die einzigen Geschichten, die man sich über ihn erzählte.
Welche auch immer davon stimmen mochte, sie erzeugten vor allem Angst bei den Kindern.
Der Mann zerrte den stämmigen Jungen mit sich und nickte dem kleinen Jungen zu, damit dieser ihnen folgte.
Nach einer halben Stunde kletterten sie an einer verborgenen Stelle in einer kleinen Gasse aus der Kanalisation und bogen in eine Seitengasse ein. Dort betraten sie ein altes, verlassen aussehendes Gebäude.
Es war aber keineswegs verlassen. Der Meister stieg mit den beiden Kindern in den Keller des Hauses hinab, streckte seine Hand nach einem Fackelhalter zu seiner rechten aus, zog mit einem kräftigen Ruck daran und vor ihnen tat sich ein verborgener Gang auf.
Das Versteck des Meisters erstreckte sich über ein riesiges Areal. Hier bildete er sie aus: Strassenjungen, die keiner vermisste. Sie wurden zu Dieben, Attentätern, Spionen. In wessen Dienst sie später traten und ob sie jemals frei wurden, niemand von den Kindern wusste es.
Hier, in dem Versteck unter der Stadt, lebten sie in Angst und Schrecken vor dem, den sie nur Meister nannten.
Das Gold, der Schmuck und was sie sonst alles für ihn erbeuteten, wurde in einer großen Schatzkammer gelagert.
Der Meister öffnete die Tür zu einer kleinen Kammer und schleuderte den stämmigen Jungen zu Boden. Der junge verkroch sich wie ein geprügelter Hund in eine Ecke und zog weinend die Beine an seinen Körper. Der kleine, braunhaarige Junge blieb neben der Tür stehen als der Meister diese zuknallte.
„Ihr bleibt hier drinnen, bis ich wiederkomme“, hörten sie ihn von der anderen Seite sagen.
„Ich...ich habe Angst, schluchzte der stämmige Junge. Du weißt, was er mit den anderen gemacht hat, die ihm etwas stehlen wollten.“
Der kleine Junge nickte nur ängstlich.
Eine Stunde später kam der Meister zurück. Er führte die beiden in eine große Halle.
In der Mitte des Raumes stand ein großer, mit einem Deckel verschlossener Korb.
Der Meister wies den stämmigen Jungen an, sich vor den Korb zu stellen. Den kleinen jungen befahl er, sich zu den anderen Kindern zu setzen, die rings um sie herum an den Wänden saßen.
Der stämmige Junge wurde kreidebleich und fiel vor dem Meister vor die Knie.
„Bitte Meister...ich wollte nicht....“
„Ruhe!“ Der Meister hob seine rechte Hand und blickte auf das winselnde Kind zu seinen Füssen.
Er sprach zu den anderen Kindern, drehte sich einmal langsam um die eigene Achse, während er mit bedrohlicher Stimme erklärte.
„Jetzt werdet ihr sehen, was euch droht, wenn ihr euch an meinem Hab und Gut vergreift!“
Der kleine braunhaarige Junge saß zwischen zwei anderen Kindern und presste die Lippen zusammen. Tränen liefen seine Wangen hinab. Er wusste, wovon der Meister sprach – sie alle wussten es.
Der Meister hob den Deckel des Korbes an, der vor dem stämmigen Jungen stand.
Er nickte dem Jungen zu. „Nun los, greife hinein...“
Der stämmige Junge zögerte und begann stattdessen bitterlich zu weinen.
Der Meister warf den Deckel beiseite und packte den Jungen am Hemdkragen.
„Los...greife jetzt in den Korb hinein...!“
Der Junge schob vor Angst zitternd seine Hand in den Korb. Der Meister lächelte böse.
Plötzlich hörten alle ein lautes Zischen und der stämmige Junge zog mit einem Schmerzensschrei seine Hand aus dem Korb.
Er betrachtete seinen Handrücken, wo zwei kleine blutige Punkte zu sehen waren.
„So mein kleiner verräterischer Freund. Wenn du Glück hast und die harmlose der beiden Schlangen erwischt hast, wird dir heute Abend nur sehr schlecht sein.
Wenn aber nicht...nun...dann werden dich morgen deine Freunde in der Kanalisation begraben.“