Prolog
Waren, Handel und Verträge
„Ich stelle fest, jetzt wo ich das ganze hier persönlich sehe und die Menschen hier kennenlerne, kann ich verstehen, dass dich nichts mehr nach Hause treibt, mein Kind.“ Lord Tehan Dal’Maris war auf den kleinen Balkon seines Zimmers getreten, das er sich im „Fisherman’s Rest Inn“ genommen hatte.
Westcliff…“ Lord Tehan ließ sich den Namen auf der Zunge zergehen und blickte dann in die untergehende Abendsonne, die das Meer golden verfärbte. „Westcliff ist wirklich ein sehr passender Name für diesen Ort… hier im äußersten Westen des Landes. Die Menschen können hier wirklich stolz auf das sein, was sie sich hier geschaffen haben.“
Lord Tehan blickte noch eine Weile andächtig auf das Meer und hing seinen Gedanken nach. Kalifa hatte sich auf das Sofa gesetzt, die Hände in den Schoss gelegt und wartete stillschweigend ab, bis ihr Vater wieder etwas zu sagen hatte. Was hätte sie jetzt auch groß sagen sollen. Für den Augenblick war sie ihm nur dankbar, dass er ihr keine großen
Vorwürfe machte.
Der Lord trat nun wieder ins Zimmer, setzte sich zu ihr und blickte dann seine Tochter an. Ganz kurz trat ein sanfter Ausdruck in seine Augen.
„Darf ich dir noch was sagen?“
„Ja, Papa.“ Kalifa fühlte sich immer noch wie das kleine Mädchen in seiner Nähe. Sie betrachtete ihn forschend, aber ihr Vater lächelte.
„Weißt du ich bin sehr stolz auf dich, Kalifa. Wenn ich je strenger zu dir gewesen bin als zu deinen beiden Brüdern Tamar und Telfan, dann nicht, weil ich dich nicht weniger liebe als sie. Auch nicht, weil du ein weit aus kühneres Wesen als die beiden hast, was mir und deiner Mutter immer viele schlaflose Nächte bereitet hat. Glaub mir, ich war mir immer sehr bewusst, dass du meine einzige Tochter bist.“
Kalifa betrachtete ihn weiter fragend und runzelte leicht verwirrt die Stirn. Sie verstand nicht, was ihr Vater mit seinen Worten eigentlich sagen wollte. Sicher, sie war immer etwas wilder und unbändiger als ihre Brüder gewesen, und wie eine Mädchen aus gutem Hause hatte sie sich auch nicht immer benommen, was ihrem Vater Grund genug gewesen war, sie etwas härter als seine Söhne anzufassen. Als junges Mädchen hatte nie verstanden, warum nur ihre Brüder kämpfen lernen sollten und sie ihr Leben hinter einem langweiligen Webrahmen verbringen sollte.
„Ich fürchte, ich verstehe jetzt nicht ganz, Vater“ sagte sie dann. Lord Tehan schmunzelte leicht.
„Weißt du, ich war etwas strenger zu dir, weil meine schöne, trotzige Tochter mehr Charakterstärke brauchte, mehr Kraft und mehr Ehrgeiz, um in dieser Welt bestehen zu können. Und wenn ich mir die Frau heute ansehe, die aus dir geworden ist, dann denke ich, das ich recht mit meiner Erziehungsstrategie gehabt habe.“
Die junge Frau blickte ihn überrascht an und wurde rot vor Freude. Sie war es nicht gewohnt, von ihrem Vater ein solches Lob zu bekommen und es machte sie sehr glücklich.
„Du hast mit diesen Leuten hier aus dem Nichts etwas aufgebaut, was nur sehr wenige von sich behaupten können. Offensichtlich sind auch deine Vorstellungen von Ehre und Pflicht ebenso streng wie die deiner Brüder. Das sieht man daran, wie du hier mit den Kindern umgehst, auch wenn es nicht deine eigenen sind, was ich sehr bedaure. Du bist für die Menschen hier zum Beschützer und Vorbild geworden. Ich bin wirklich sehr zufrieden, mit der Frau die du geworden bist.“
Lord Tehan betrachtete seine Tochter noch einen Moment voller Zärtlichkeit. Er ließ seiner Tochter etwas Zeit, das eben gesagte zu verinnerlichen. Auch er brauchte nun etwas Zeit, um die richtigen Worte zu finden, wurde dann aber ernst, als er weitersprach.
„Es ist wirklich kaum zu glauben, dass die Krone in Britain von diesem Ort hier nicht den leisesten Hauch einer Ahnung hat. Blackthorne wird sich wie ein Narr vorkommen, wenn er davon eines Tages erfährt.“
„Die Befürchtung haben ich auch, Vater“, sagte Kalifa. „Bislang haben wir großes Glück gehabt, weil die Siedlung hier sozusagen am Rande der Welt liegt und uns zudem der Dschungel noch beschützt. Aber es gibt bereits genug Seefahrer, die hier Halt auf dem Weg nach Jhelom oder Trinsic gemacht und ihre Waren hier umgesetzt haben. Es blieb uns irgendwann nichts anders übrig, als die Lagermöglichkeiten hier zu erweitern und den Kaufleuten hier eine anständige Verpflegung und Unterkunft zu sichern.“
Lord Tehan nickte leicht. Er dachte kurz nach. Der neue König hatte in der Tat für neue Veränderungen im Land gesorgt, mit dem Beschluss, Gouverneure in den Städten einzusetzen. Auch wenn er Blackthorne persönlich nicht mochte, kam er nicht umhin, ihn für diese Entscheidung doch den nötigen Respekt zu zollen.
Nachdem sich die erste Aufregung darüber gelegt hatte und ein paar Gouverneure auf Nimmerwiedersehen verschwunden und durch andere ersetzt worden waren, die den verlassenen Posten angenommen hatten, kehrte langsam wieder Ruhe in das von Rebellionen gebeutelte Land ein. Der Frieden war nun wieder gesichert, nachdem nun auch der letzte Rest dieser ketzerischen Sekte niedergeschlagen worden war, die das Land für einige Wochen in Atem gehalten hatten.
Cove, Yew oder auch Trinsic hatten durch diesen anarchischen Zustand sehr gelitten. Es hatte genug Banditen gegeben, die die Handelsreisenden und fahrenden Kaufleute auf den Straßen überfallen und ausgeraubt oder sogar verschleppt hatten. Auch wenn der König Gesetze gegen dieses Treiben erlassen hatte und die Städte von der Steuer befreit hatte, für die Leute auf den Land änderte sich äußerst wenig. Sie waren nach wie vor der Willkür der Landesfürsten ausgesetzt und wurden mit hohen Steuern und Zöllen belastet. Es kam oft genug vor, dass ein Kaufmann die geforderten Abgaben nicht bezahlen konnte und seine Ländereien und Güter wieder eingezogen wurden. Ja es war gut, dass die Städte nun dazu übergegangen waren, sich selbst zu helfen und begannen, sich in Handelsbünden zusammenzuschließen.
Der Kaufmannstand hatte sich nun gut etabliert und es wurde möglich, auf eigene Faust Handel zu treiben und Vertreter in die Städte zu senden. Viele der erfolgreicheren Kaufleute wurden nun ansässig, bauten einen ständigen Markt auf, regelten von dort aus ihre Handelsgeschäfte und konnten ihre Handelstätigkeiten um ein Vielfaches ausweiten. Durch die Einführung von Gold, Schuldscheinen und Wechseln war der reine Tauschhandel zwischen Ware und Ware beinahe weggefallen. Die Großmärkte in den Regionen verloren zunehmend an Bedeutung, da sich der Handel immer mehr auf die Städte zentrierte. Eine weitere Folge davon war auch, dass diese wirtschaftlich gut gesicherten Stadtbewohner schnell in die höchsten Positionen und Ämter der Städte aufstiegen und die Stadt von ihnen beherrscht wurde. Dennoch standen die Kaufleute im Reich noch immer traditionell unter königlichem Schutz.
Lord Tehan wandte sich wieder an seine Tochter. Er setzte sich nun etwas bequemer in seinen Sessel und schlug die Beine übereinander.
„Seefahrer kommen viel rum und tratschen auch gerne. Dieser Umstand wird euch hier noch mal zugute kommen. Die großen Städte hier im Lande – Vesper, Minoc, Trinsic, Britain – sind bereits dabei, ihre Handelsbeziehungen untereinander auszubauen. Die übrigen werden bald folgen. Ein Verbleiben in der Neutralität würde der König bald als persönlichen Angriff gegen sein Statut nehmen, und das könnte der Siedlung möglicherweise mehr schaden als nutzen. Er würde euch des Hochverrats bezichtigen, das Land von der Krone genommen zu haben, und dann befürchte ich schlimme Folgen für alle. Mein Kind, ihr werdet hier nicht drum herum kommen, möglichst bald eine Entscheidung darüber zu treffen, welcher Stadt ihr loyal sein wollt. Der Siedlung würde es auch nicht schaden, wenn der Handel hier etwas mehr ausgebaut würde und dadurch mehr Gold in die leeren Kassen fließt.“
„Das ist wohl wahr“, erwiderte Kalifa nachdenklich, hakte aber dennoch ein.
„Trotzdem bin ich in dieser Hinsicht doch lieber etwas vorsichtiger, Vater. Viel Gold und Besitz ruft die Neider schnell auf den Plan, das weißt du so gut wie ich, und die Leute lieben hier keine Steuereintreiber.
„Da stimme ich dir zu, mein Kind. Es würde die Leute hier nur unruhig werden lassen und zu unnötigen Aufständen führen. Deshalb müssen wir sie hier langsam an das Thema heranführen.“
„Und wie willst du das anstellen? Du hast es hier mit einer Menge Individualisten zu tun, die ihre Freiheit lieber bis an die Zähne bewaffnet verteidigen würden, als auch nur einen Goldtaler an einen Steuereintreiber zu verschwenden. Die Leute lieben ihre Freiheit hier, und die würden sie auch mit Mann und Maus verteidigen.“
„Deshalb ist es wichtig, hier in der Siedlung für klare Regeln und Ordnung zu sorgen. Die Menschen müssen sich ihres handwerklichen Könnens bewusst sein, sie müssen wissen, dass sie gute Arbeit leisten können, die sich auch für gutes Gold verkaufen lässt, und das würde auch ihr Selbstbewusstsein weiter stärken. Und bei Gott… es gibt hier solche Leute. Der junge Nadim ist ein hervorragendes Beispiel dafür.“
Kalifa hörte ihrem Vater zu und verstand langsam, worauf er hinauswollte. Lord Tehan führte dann seine Gedanken weiter aus:
„Zunächst einmal ist es wichtig, das Handwerk hier anzukurbeln. Gutes und solides Handwerk ist der Schlüssel zu allen Erfolg. Wenn dieser soweit gestiegen ist, und die Kassen gut füllt, verschafft diese neue Wirtschaftskraft der Siedlung hier sogar noch den benötigten politischen Einfluss auf den König, mit der Möglichkeit besondere Genehmigungen und Privilegien einzuholen und diese Rechte von der Krone zu kaufen. Damit erreicht man den Status der „Reichsunmittelbarkeit“ und wäre rechtlich nur dem König – und allein dem König unterstellt! Eine zusätzliche Abgabe an die Landesfürsten wäre damit hinfällig und könnte von ihnen auch nicht gefordert werden.“
Lord Tehan betrachtete seine Tochter nun prüfend und gab ihr einem Moment, das Gesagte verarbeiten zu können. Kalifa wirkte immer noch unsicher:
„Du meinst wir sollten damit anfangen, auf einer höher gelegenen Ebene als den Landesfürsten unsere Rechte abzutrotzen? War es dir deshalb heute so wichtig, das baldmöglichst von Charles de Morency der Rat eingeholt werden sollte?“ Lord Tehan nickte leicht.
„Ja, mein Kind. Genau deshalb habe ich darauf bestanden. Die Handwerker sollten schleunigst ihre Interessen hier koordinieren, festhalten und über die Ratsversammlung beschließen lassen und schriftlich darlegen.“
„Und wer soll diese Verträge dem König abtrotzen?“
„Das wirst du tun, Kalifa. Meine Söhne sind derzeit nicht greifbar für mich, was ich bedaure. Und du bist klug, äußerst wortgewandt und zudem sehr schön. Und du kämpfst wie ein Mann von Ehre, wenn es um die Rechte von Schwächeren geht. Allein das wird auf den König schon einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Ehrlich gesagt…“er spielte seine Nachdenklichkeit nur etwas“ … wüsste ich keinen Mann, der gegen solche Reize nicht ganz unempfänglich wäre.“
Kalifa wirkte leicht geschockt bei diesem Worten. So hatte sie ihren Vater noch nie erlebt. Aber Lord Tehan wirkte auch nicht auf sie, als wollte er sie nun bewusst in die Höhle des Löwen schicken. Sie betrachtete ihren Vater und sah dann, dass seine Augen einen schelmischen Ausdruck angenommen hatten und ein leichter Zug seine Mundwinkel umspielten. Die junge Frau schluckte den kurz aufkeimenden Anflug von Trotz nun wieder runter und sah ihren Vater nun direkt an und herausfordernd an:
„Du weißt aber schon, was für eine große Last du mir hier aufbürdest, Papa?“ fragte sie.
„Du weißt, ich würde mich viel wohler in meiner Haut fühlen, wenn ich wüsste, dass meine Familie hinter mir steht und dieses Vorhaben mit unterstützt. Die Taverne fordert meinen vollen Einsatz, und ich kann nicht überall sein.“ Lord Tehan schaute noch immer amüsiert auf seine Tochter.
„Mein liebes Kind…“ sagte er dann gedehnt, „du weißt, das ich gerade nichts besseres zu tun habe und mich sogar im Gegenteil fürchterlich in Skara Brae langweile? Wirklich, ich sehne mich wieder nach einer richtigen Aufgabe. “ Wieder schaute ihn Kalifa überrascht an. Lord Tehan schmunzelte, als er weiter sprach:
„Weiß du… mir gefällt es hier bereits so gut, das ich beschlossen habe, noch eine sehr lange Weile hierzubleiben. Ich erwarte jeden Moment die vom König unterschriebene Besitzurkunde dieses herrlichen Fleckchens Erde hier. Damit kannst du dir meiner Unterstützung schon einmal sicher sein.“
Kalifa fiel ihrem Vater jubelnd um den Hals. Dass dieses so angstvoll erwartete Gespräch einen solchen Ausgang genommen hatte, hatte sie niemals im Traum erwartet. Ihr Vater war da und würde sie unterstützen. Und sich war sich sicher, dass es auch die Leute in Westcliff tun würden. Ein unbeschreibliches Gefühl breitete sich in ihren Inneren aus, ein Gefühl der Befreiung. Sie war glücklich.