Alrik Ploetzbogen
Lehrling
Eines Tages im Oktober brachte mir ein Bote einen Brief ins Rathaus. Auf dem Umschlag stand nur ‚Plötzbogen, Trinsic‘. Ich riss den Umschlag auf und las.
An Alrik Plötzbogen,
kommt bitte, so schnell es geht, zu Meister Slave.
Treman
„Nein! Nicht das!“ Ich ließ alles stehen und liegen, reiste nach Hause und suchte die Rune zu Slaves Turm. Nach ein paar Minuten hatte ich sie hinten in einer Schublade gefunden und wenige Augenblicke später stand ich vor dem Turm, in dem ich meine ganze Jugend verbracht hatte. Das letzte Mal hatte ich Slave zusammen mit Alia vor vier Jahren besucht. Wie schnell doch die Zeit vergangen war. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf. Ich klopfte an die Tür, ein kräftiger junger Mann öffnete mir.
„Alrik Plötzbogen?“, fragte er mich.
Ich nickte.
Er verbeugte sich tief. „Mein Name ist Treman. Ich bin seit drei Jahren der Gehilfe von Meister Slave. Er hat nach Euch und Eurem Bruder verlangt, hoher Herr. Es … er … Das Ende ist nah.“
Ich trat an dem verschüchtert wirkenden Mann in den Turm. Es sah hier immer noch aus wie früher. Sogar die Vorhänge, die wir damals in Trinsic gekauft hatten, hingen noch in den Fenstern. Die Erinnerungen an die damalige Zeit überwältigten mich unverhofft und ich musste einen Moment innehalten und nach Atem ringen. Dann ging ich die zwei Treppen hoch und stand an dem Lager meines alten Meisters und des Mannes, der für mich wie ein Vater gewesen war.
So wenig sich Slaves Turm in den Jahren verändert hatte, so deutlich hatte die Zeit ihm zugesetzt. Er war alt und gebrechlich geworden. Die 70 hatte er schon weit überschritten. Er lag in seinem Bett und atmete schwer. Mit der Gewissheit, dass ich Slave heute zum letzten Mal begegnete, trat ich an sein Lager.
„Meister Slave. Ich bin gekommen“, sagte ich leise.
Er blickte müde zu mir auf, kniff die Augen zusammen und versuchte, mich zu erkennen. „Alrik? Hast du doch noch mal den Weg hierher gefunden. Komm, setz dich zu mir.“
Ich setzte mich an das Bett und griff seine Hände. Wie schwach waren sie jetzt, diese Hände des einst bärenstarken Mannes. Ich brachte keinen Ton heraus.
Er lächelte schwach. „Mach dir nichts draus. Alles ist gut. Tri … Treman übernimmt den Turm und … das Geschäft, wenn ich dann gegangen bin.“
Ich nickte mühsam.
„Ach, und Alrik. Du musst wirklich die verbrannten Vorhänge ersetzen. Die Sonne leuchtet immer so rein und blendet mich.“
„Slave, wir haben doch zusammen in Trinsic neue Vorhänge gekauft. Erinnerst du dich?“
Er sah mich zweifelnd an. „Ja, ja, du hast recht. Hatte ich vergessen. Gehst du wieder auf Abenteuer?“
„Nicht heute. Ich bleibe hier.“
„Das freut mich. Du musst besser auf dich aufpassen, weißt du. Ah, … es gibt da noch eine Sache, die ich tun muss, bevor ich gehe.“
Mir war wieder eingefallen, was es war, und ich wartete auf seine Frage. Vor einem viertel Jahrhundert hatte er mir vorausgesagt, dass er mir diese Frage stellen wollte. Und er hatte wahrlich bis zum letzten Moment gewartet.
„Wer bist du, Alrik Plötzbogen?“, fragte der alte Mann.
Ich dachte zurück an alles, was ich erlebt hatte, an alles, was ich vollbracht hatte: weit gereister Abenteurer, Kampfmagier, Priester einer gefallenen Göttin, Stadtrat, Baron. Aber nichts davon war mir wert, es auf diese Frage als Antwort zu nennen. Nichts schien im Angesicht des Todes von wirklicher Bedeutung zu sein. Hätte ich doch stolz sagen können: Ich bin der Ehemann einer glücklichen Frau, ich bin der Vater eines gesunden Kindes. Das hätte Gewicht, das hätte Bedeutung gehabt. Das hätte dem Tod getrotzt! Indes, ich war weder das eine noch das andere. Meine Titel, für die ich so lang gekämpft hatte, schienen mir hohl und leer. Ich öffnete den Mund, sagte aber nichts.
„Du brauchst mir die Antwort gar nicht zu geben, Alrik. Du selbst musst erkennen, was der rechte Weg für dich ist. Man kann immer seine Schritte in eine neue Richtung lenken. Das wollte ich dir noch sagen. Und jetzt bin ich müde.“
„Schlaf ein bisschen, Slave. Weißt du noch, wie wir damals nach Trinsic gereist sind? Du hattest die Rüstungen für Wulf von Trinsic auf Sternchen verladen … “ Ich erzählte immer weiter von jenem Tag.
Slave hörte mir zu, schloss nach einiger Zeit die Augen und schlief lächelnd ein. Ich verstummte. Es hatte mich alle Kraft gekostet, bis hierhin zu reden, jetzt konnte ich nicht mehr. Dann trat Treman hinzu. Hinter ihm kam seine Frau mit der kleinen Tochter auf dem Arm schüchtern die Treppe herauf. Sie setzten sich zu mir und wir warteten gemeinsam und schweigend.
Bei Sonnenuntergang bestatteten wir Slave am Fuß seines Turms. Es war düster geworden, als ich mich von dem neuen Schmiedemeister verabschiedete.
„Kann ich noch etwas für euch tun?“, fragte ich die Familie, die in Trauer vereint vor dem frischen Grab stand.
Treman blickte mich schüchtern an und sagte: „Habt Dank, hoher Herr, aber wir haben alles, was wir brauchen.“
Ich sah zu ihm, seiner Frau und der kleinen Tochter, die auf dem Arm der Mutter eingeschlafen war, den Daumen im Mund. „Wahrlich, das habt ihr! Beneidenswert. Lebt wohl und in Frieden.“
An Alrik Plötzbogen,
kommt bitte, so schnell es geht, zu Meister Slave.
Treman
„Nein! Nicht das!“ Ich ließ alles stehen und liegen, reiste nach Hause und suchte die Rune zu Slaves Turm. Nach ein paar Minuten hatte ich sie hinten in einer Schublade gefunden und wenige Augenblicke später stand ich vor dem Turm, in dem ich meine ganze Jugend verbracht hatte. Das letzte Mal hatte ich Slave zusammen mit Alia vor vier Jahren besucht. Wie schnell doch die Zeit vergangen war. Aus dem Kamin stieg kein Rauch auf. Ich klopfte an die Tür, ein kräftiger junger Mann öffnete mir.
„Alrik Plötzbogen?“, fragte er mich.
Ich nickte.
Er verbeugte sich tief. „Mein Name ist Treman. Ich bin seit drei Jahren der Gehilfe von Meister Slave. Er hat nach Euch und Eurem Bruder verlangt, hoher Herr. Es … er … Das Ende ist nah.“
Ich trat an dem verschüchtert wirkenden Mann in den Turm. Es sah hier immer noch aus wie früher. Sogar die Vorhänge, die wir damals in Trinsic gekauft hatten, hingen noch in den Fenstern. Die Erinnerungen an die damalige Zeit überwältigten mich unverhofft und ich musste einen Moment innehalten und nach Atem ringen. Dann ging ich die zwei Treppen hoch und stand an dem Lager meines alten Meisters und des Mannes, der für mich wie ein Vater gewesen war.
So wenig sich Slaves Turm in den Jahren verändert hatte, so deutlich hatte die Zeit ihm zugesetzt. Er war alt und gebrechlich geworden. Die 70 hatte er schon weit überschritten. Er lag in seinem Bett und atmete schwer. Mit der Gewissheit, dass ich Slave heute zum letzten Mal begegnete, trat ich an sein Lager.
„Meister Slave. Ich bin gekommen“, sagte ich leise.
Er blickte müde zu mir auf, kniff die Augen zusammen und versuchte, mich zu erkennen. „Alrik? Hast du doch noch mal den Weg hierher gefunden. Komm, setz dich zu mir.“
Ich setzte mich an das Bett und griff seine Hände. Wie schwach waren sie jetzt, diese Hände des einst bärenstarken Mannes. Ich brachte keinen Ton heraus.
Er lächelte schwach. „Mach dir nichts draus. Alles ist gut. Tri … Treman übernimmt den Turm und … das Geschäft, wenn ich dann gegangen bin.“
Ich nickte mühsam.
„Ach, und Alrik. Du musst wirklich die verbrannten Vorhänge ersetzen. Die Sonne leuchtet immer so rein und blendet mich.“
„Slave, wir haben doch zusammen in Trinsic neue Vorhänge gekauft. Erinnerst du dich?“
Er sah mich zweifelnd an. „Ja, ja, du hast recht. Hatte ich vergessen. Gehst du wieder auf Abenteuer?“
„Nicht heute. Ich bleibe hier.“
„Das freut mich. Du musst besser auf dich aufpassen, weißt du. Ah, … es gibt da noch eine Sache, die ich tun muss, bevor ich gehe.“
Mir war wieder eingefallen, was es war, und ich wartete auf seine Frage. Vor einem viertel Jahrhundert hatte er mir vorausgesagt, dass er mir diese Frage stellen wollte. Und er hatte wahrlich bis zum letzten Moment gewartet.
„Wer bist du, Alrik Plötzbogen?“, fragte der alte Mann.
Ich dachte zurück an alles, was ich erlebt hatte, an alles, was ich vollbracht hatte: weit gereister Abenteurer, Kampfmagier, Priester einer gefallenen Göttin, Stadtrat, Baron. Aber nichts davon war mir wert, es auf diese Frage als Antwort zu nennen. Nichts schien im Angesicht des Todes von wirklicher Bedeutung zu sein. Hätte ich doch stolz sagen können: Ich bin der Ehemann einer glücklichen Frau, ich bin der Vater eines gesunden Kindes. Das hätte Gewicht, das hätte Bedeutung gehabt. Das hätte dem Tod getrotzt! Indes, ich war weder das eine noch das andere. Meine Titel, für die ich so lang gekämpft hatte, schienen mir hohl und leer. Ich öffnete den Mund, sagte aber nichts.
„Du brauchst mir die Antwort gar nicht zu geben, Alrik. Du selbst musst erkennen, was der rechte Weg für dich ist. Man kann immer seine Schritte in eine neue Richtung lenken. Das wollte ich dir noch sagen. Und jetzt bin ich müde.“
„Schlaf ein bisschen, Slave. Weißt du noch, wie wir damals nach Trinsic gereist sind? Du hattest die Rüstungen für Wulf von Trinsic auf Sternchen verladen … “ Ich erzählte immer weiter von jenem Tag.
Slave hörte mir zu, schloss nach einiger Zeit die Augen und schlief lächelnd ein. Ich verstummte. Es hatte mich alle Kraft gekostet, bis hierhin zu reden, jetzt konnte ich nicht mehr. Dann trat Treman hinzu. Hinter ihm kam seine Frau mit der kleinen Tochter auf dem Arm schüchtern die Treppe herauf. Sie setzten sich zu mir und wir warteten gemeinsam und schweigend.
Bei Sonnenuntergang bestatteten wir Slave am Fuß seines Turms. Es war düster geworden, als ich mich von dem neuen Schmiedemeister verabschiedete.
„Kann ich noch etwas für euch tun?“, fragte ich die Familie, die in Trauer vereint vor dem frischen Grab stand.
Treman blickte mich schüchtern an und sagte: „Habt Dank, hoher Herr, aber wir haben alles, was wir brauchen.“
Ich sah zu ihm, seiner Frau und der kleinen Tochter, die auf dem Arm der Mutter eingeschlafen war, den Daumen im Mund. „Wahrlich, das habt ihr! Beneidenswert. Lebt wohl und in Frieden.“