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Der Sonne nach!

Verfolgung​

Endlich war Ruhe. Die gesamte Nacht über hatten die Naturgewalten an der Ariane gezerrt, sie durchgeschüttelt und fast ihre Segel in Fetzen gerissen.
Nun glitt das Schiff ruhig mit langsamer Fahrt durch das glitzernde Wasser, in dem sich die aufgehende Sonne widerspiegelte.

Isabelle stand an Decke und ließ ihren Blick in die Ferne schweifen. Sorgenfalten standen auf ihrer Stirn. Der Sturm hatte deutlich Spuren an der Ariane hinterlassen und außerdem den Frachtraum des Schiffes in ein Trümmerfeld verwandelt.
Auch wenn der Schaden an der Fracht immens war, so galt ihre Sorge in erster Linie dem Proviant und um diesen stand es nicht gut.
Warum musste ausgerechnet ein Großteil der Fässer mit dem Trinkwasser an der Bordwand zerschellen?
Isabelle verbannte eine störrische Haarsträhne aus ihrem Gesicht und schob sie unter ihr Kopftuch.
Ihr langes schwarzes Haar war nass, ihre Kleidung triefte und ihr war kalt.
Aber das alles spielte keine Rolle, sie musste etwas tun.

„Ist mit euch alles in Ordnung Lady Duchene?“ Kapitän Geoffroy stand mit aufrechter Haltung neben ihr und musterte sie besorgt.

„Aye, mein Freund. Macht euch um mich keine Sorgen. Das Wichtigste ist, dass wir irgendwo her Wasser herbekommen.“ Isabelle schmeckte das Salz des Meerwassers auf ihren Lippen und spürte ihre trockene Kehle.

Geoffroy runzelte die Stirn. Er wusste, dass Isabelle hart im Nehmen war, aber manche Male fragte er sich, ob dieses wirklich der richtige Ort für die junge Lady war.

„Konntet ihr das Schiff wieder auf Kurs bringen? Wisst ihr, wo wir sind? Isabelle drehte sich zu ihm und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Ich denke schon. Aber es sind noch einige Tagesreisen bis Skara Brae. Dorthin schaffen wir es auf keinen Fall mehr mit dem wenigen Wasser, das wir noch haben.
Wir haben die Wahl – entweder drehen wir um nach Jhelom oder wir versuchen woanders zu ankern und an Land zu gehen. Aber ich kenne mich in diesen Gewässern nicht sehr gut aus.“

„Dann sollten wir zurück nach Jhelom“, erwiderte Isabelle und wollte gerade eben das Deck verlassen, als plötzlich eine laute Stimme aus dem Ausguck ertönte.
„Land in Sicht!“

Kapitän Geoffroy blickte durch sein Fernrohr und reichte es dann Isabelle.
Isabelle blickte kurz hindurch und wendete sich dann wieder dem Kapitän zu.
„Meint ihr....?“

„Vielleicht...“ erwiderte Geoffroy. Wenn ich mich recht erinnere ist auf den Seekarten an dieser Stelle eine Insel vermerkt. Womöglich gibt es hier eine Siedlung und auch Wasser. Einen Versuch ist es wert – umdrehen können wir immer noch.“

Isabelle nahm wieder das Fernrohr zur Hand, betrachtete den grünen Streifen, der sich am Horizont abzeichnete und gab das Fernrohr anschließend Geoffroy zurück.

„Gut, ich werde mich umziehen. Sagt mir bitte umgehend Bescheid, wenn ihr mehr wisst.“

Kapitän Geoffroy nickte knapp. „Kann ich etwas für euch tun? Ihr seht sehr erschöpft aus.“

„Nein danke“, antwortete Isabelle lächelnd und machte sich auf den Weg zur ihrer Kajüte. Es war eine kleine Besonderheit, dass die junge Dame an Bord ihre eigene Kajüte hatte, auf die Isabelles Vater aber bestanden hatte.
Isabelle hatte gerade ihr Bluse zugeknöpft, als es schon laut an ihrer Tür pochte und sie gedämpft durch das Holz die Stimme des Kapitäns vernahm.
„Lady Duchene, wir haben ein Schiff gesichtet!“

„Einen Augenblick, ich bin sofort bei euch“, rief Isabelle ihm zu, zog sich hastig ihre Stiefel über, griff im Hinausgehen nach einem Mantel und lief an Deck. Dort wartete bereits Geoffroy auf sie und reichte ihr ein Fernrohr.

„Ich sehe keinen Hafen, aber das Schiff schon...“, murmelte sie leise, während sie das Schiff in der Ferne beobachtete. „Konntet ihr eine Flagge erkennen?“

„Nein, bisher nicht. Wir sollten Vorsicht walten lassen. Wer weiß, wem dieses Schiff gehört. Es sieht schwer bewaff...“

„Sofort wenden!“ Fuhr ihm Isabelle dazwischen. Die junge Frau setze das Fernrohr ab und blickte ihn mit angsterfülltem Gesichtsausdruck an.

„Was habt ihr...?“ Geoffroy riss ihr, ahnend was sie gesehen hatte, das Fernrohr aus der Hand und blickte hindurch. Sein Gesicht wurde kreidebleich.

„Die schwarze Flagge, verdammter Mist“, fluchte er. „Wir müssen sofort verschwinden!“

Er gab der Crew die nötigen Befehle, das Schiff zu wenden und in Richtung Festland zu steuern.

„Wenn die uns erwischen, dann sind wir geliefert“, murmelte Geoffroy.

Isabelle wusste, dass er Recht hatte. Zwar war die Ariane das größte Handelsschiff der Familie Duchene, war aber für einen Kampf nur spärlich gerüstet.

Geoffroy beobachtete weiter das Schiff der Piraten.
„Sie haben und gesehen, sie setzen Segel...“ Der Kapitän wandte sich wieder Isabelle zu.
„Ich sehe nur eine Möglichkeit, wie wir ihnen entkommen können“, sagte er und nickte Richtung Backbord. „Wir müssen das Festland erreichen.“

Isabelle folgte seinem Blick und fuhr sich nervös durch die Haare. „Meint ihr, wir schaffen es...?“
„Ich denke...schon...“, murmelte Geoffroy unsicher, blickte sie alles sagend an und beobachtete mit zusammengekniffenen Augen das bedrohlich aussehende Schiff, dass sich von hinten langsam näherte.

Isabelle spürte, wie langsam die Angst in ihr aufstieg. Sie hatte schon von Handelsschiffen gehört, die in die Hände von Piraten gefallen waren und sie wusste auch, dass Frauen eine sehr begehrte Beute waren. Sie schluckte trocken und blickte Kapitän Geoffroy von der Seite an.
Geoffroys Gesicht hellte sich plötzlich auf.
„Schaut...“, rief er und deute mit seinem Zeigefinger auf einen Punkt in der Ferne. „Vom Festland her kommt Nebel auf. Das könnte unsere Rettung sein!“ Er befahl dem Steuermann auf die Nebelbank Kurs zu nehmen.
Isabelle warf einen ängstlichen Blick über ihre Schulter. Die Verfolger waren in der Zwischenzeit ein deutliches Stück näher gekommen.
„Keine Angst....wir schaffen es schon“, hörte sie die beruhigende Stimme des Kapitäns und spürte seine Hand auf ihrer Schulter.
Isabelle nickte nur stumm und wandte ihren Blick wieder der Nebelbank zu, die sich langsam wabernd vor ihnen ausbreitete.

Eine gefühlte Ewigkeit später tauchte der Bug der Ariane in den Nebel ein.
 
Ein neuer Kurs​

An Bord war es so ruhig, dass man eine Nadel zu Boden hätte fallen hören.
Kapitän Geoffroy hatte die Mannschaft angewiesen, nicht auch nur einen Laut von sich zu geben.
Die Ariane glitt fast lautlos durch den undurchsichtigen grauen Schleier. Eine unheimliche Atmosphäre hatte sich auf dem Schiff ausgebreitet. Die Matrosen standen stumm auf ihren Posten und starrten in den Nebel. Der Kapitän stand wie versteinert neben dem Steuermann und schaute sich immer wieder verstohlen um, jeden Moment damit rechnend, dass die schwarze Flagge durch den Nebel stoßen würde.
Isabelle stand mit einer Hand auf ein Holzfass gestützt etwas abseits der übrigen Besatzung und trommelte nervös mit ihren Fingern auf dem Holzdeckel des Fasses. Die Ringe an ihren Fingern erzeugten ein hell klingendes Geräusch, dass die gespenstische Stille an Deck geradezu zerschnitt.
Sie hielt in der Bewegung inne und biss sich nervös auf die Unterlippe.
Die Fahrt dauerte so eine ganze Weile an. Gegen Abend lichte sich der Nebel etwas und der Blick auf die Umgebung wurde frei.

Kapitän Geoffroy schritt lächelnd auf Isabelle zu.
„Wir haben es geschafft, sie sind weg.“
Isabelle atmete tief ein und ließ die Anspannung aus ihrem Körper weichen.
„Ich danke euch Kapitän...ich...“, sie schluckte trocken und rang sichtlich erschöpft mit den Worten.
„Kommt...“ Geoffroy faste sie sanft am Arm und geleitete sie zu seiner Kajüte. „Wir müssen den Kurs neu bestimmen.“

In der Kapitänskajüte angekommen beugte sich Geoffroy über die große Seekarte.
„Hmmm...“, brummte er. „Wir sind eine ganze Weile dem Festland gefolgt. Ich habe aber bewusst vermieden, Anker zu setzen. In dieser Gegend ist weit und breit keine Stadt verzeichnet. Wären wir hier an Land gegangen, wäre unser Schiff ebenso verloren gewesen, wenn uns die Piraten gefolgt wären.“
Kapitän Geoffroy fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den Bart, während er weiter die Karte studierte. Isabelle stand schweigend neben ihm.
„Wenn wir nach Jhelom umdrehen, laufen wir Gefahr, dass auf halbem Wege wieder die Piraten lauern. Folgen wir der Küste, brauchen wir noch einige Tage, bis wir wieder auf eine Stadt auf dem Festland treffen. Auch wenn unsere Wasservorräte fast erschöpft sind, schlage ich vor, dass wir diesen Weg wählen.“

Isabelle folgte Geoffroys Zeigefinger, während er über die Karte wanderte und auf der besagten Stadt verharrte.
„Trinsic...“, murmelte sie kaum hörbar. „Eine lange Reise...“
„Aye...das ist sie. Wir werden ab heute die Wasservorräte streng rationieren. Mit etwas Glück kommen wir mit gutem Wind in wenigen Tagen dort an.“
„Gut“, erwiderte Isabell. „Machen wir es so, wie ihr vorgeschlagen habt.“ Sie wusste, dass viel auf dem Spiel stand. Immerhin sollte das Trinkwasser zuerst nicht einmal bis Skara Brae reichen und nun diese lange Reise.
Sie verließ eilig die Kapitänskajüte und blickte sich draußen unsicher um. Nach wie vor saß die Angst tief, dass doch noch das Piratenschiff wieder auftauchte.
Sie rieb sich fröstelnd die Arme. Trotz des schweren Mantels, den sie umgelegt hatte, war ihr bitterkalt.

In ihrer Kabine angekommen, öffnete Isabelle ihren Mantel und ließ ihn dort wo sie stand zu Boden fallen. Erschöpft und kraftlos ließ sie sich in einen Sessel sinken. Sie streifte ihre Stiefel ab, nahm ihre Füße hoch und zog sie fest an ihren schlanken Körper. So zusammengekauert saß sie ein Weile da und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Es fiel ihr schwer, an etwas anderes zu denken als an das Schiff mit der schwarzen Flagge.
Sie erhob sich seufzend und ging zu ihrer Koje rüber. Sie griff nach einer warmen Wolldecke und ging wieder zu dem Sessel zurück, um sich dort wieder, mit der Decke über den Schultern, zusammenzukauern. Sie wollte nicht schlafen. Was, wenn plötzlich doch die Piraten wieder auftauchten? Isabelle traute dem Frieden nicht.
Nach einer Weile spürte sie, wie ihre Augen immer schwerer wurden. Ihre Gedanken kreisten plötzlich um etwas ganz anderes.
„Trinsic...hatte sein Vater nicht erzählt, dass er dort hingegangen war? Wie es ihm dort wohl ergeht...“, dachte sie und rieb sich müde über die Stirn. Sie hatte lange nicht mehr an ihn gedacht und das war auch gut so gewesen. Es fiel ihr schwer, ihre Gefühle für ihn völlig beiseite zu schieben. Fünf Jahre waren eine lange Zeit gewesen. Sie zog ihre Beine wieder fest an sich und legte ihr Kinn nachdenklich auf die Knie.

Wenig später fielen ihre Augen zu...
 
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Der rettende Hafen​

Es war schon Abend als die Ariane sich dem Hafen Trinsics näherte.
Isabelle stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen am Bug und atmete die frische Seeluft ein.
Sie war in die Farben des Schiffes gekleidet, Blau und Weiß. Ihre polierten Stiefel glänzten in der Abendsonne und der blaue, schwere Umhang umspielte ihre schlanke Statur. Ihr schwarzes Haar lag seidig glänzend auf ihren Schultern.

„Ihr seht gut aus Lady Duchene“, murmelte Kapitän Geoffroy verlegen, der sich lautlos von hinten genähert hatte.
„Danke...“, antworte Isabelle leise, während ein sanftes Lächeln ihre Lippen umspielte.
Aber auch ihr waren die Anstrengungen der letzten Tag anzusehen.
Der Kapitän stellte sich neben sie und ließ seinen Blick über den langsam größer werdenden Hafen schweifen. „Eine prächtige Stadt. Wir waren lange nicht mehr hier.“
Isabelle nickte zustimmend.
„Es wurde höchste Zeit. Die Stimmung in der Mannschaft ist schlecht. Alle haben Durst, auch der übrige Proviant geht zur Neige.
„Mir geht es nicht anderes“, antwortete Isabelle leise. Sie hatte am Morgen des vorangegangenen Tages ihre letzte Ration einem der Matrosen gegeben, der während des Sturmes verletzt wurde und jetzt fiebernd in seiner Koje lag.

„Aber wir sollten den Göttern dankbar sein, dass sie uns gewogen waren und uns die Piraten vom Hals gehalten haben“, brummte Geoffroy.
Isabelle lächelte als sie ihm antwortete. „Mein lieber Kapitän Geoffroy. Ich bin zuerst einmal euch zu großem Dank verpflichtet. Seid gewiss, dass mein Vater sich bei euch erkenntlich zeigen wird.“
Geoffroy schüttelte seinen Kopf. „Nein Lady Duchene. Ich habe nur meine Aufgabe an Bord dieses Schiffes erfüllt“, erwiderte er.
„Ich bin gespannt, was es für Neuigkeiten in der Stadt gibt“, lenkte er verlegen ab.
„Und ich erst...“, murmelte Isabelle, während die Ariane in den Hafen von Trinsic einlief.
Kapitän Geoffroy blickte sie fragend von der Seite an.
Lady Duchenes Stimme klang kühl und sonderbar fremd. Er hatte sie lange nicht mehr so erlebt und es schien ihm, als würden ihre Gedanken plötzlich um etwas vollkommen anderes kreisen.
 
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Aufbruch​

Die Nacht war hereingebrochen, als Isabelle das Deck ihres Schiffes betrat.
Der wachhabende Matrose grüßte sie freundlich und wünschte ihr eine angenehme Nachtruhe.
Sie ging raschen Schrittes unter Deck zu ihrer Kajüte, stellte ihre Tasche auf ihrem Schreibtisch ab und ließ sich in den Sessel davor fallen. Den Kopf auf ihre Hände gestützt, saß sie so eine ganze Weile nachdenklich an dem Tisch und starrte gedankenversunken auf ihre Tasche.
Sie fühlte sich schlecht. Die zwei Gläser Wein waren alles andere als eine gute Idee gewesen, nachdem sie seit fast zwei Tagen kaum etwas gegessen und seit dem Morgen des Vortages keinen Tropfen Wasser mehr gesehen hatte. Ein ziehender Schmerz zog ihre Schläfen entlang.
Sie schloss die Augen. Aber es war nicht alleine der Wein, der ihr Kopfschmerzen bereitete.
Alte Erinnerungen waren wieder hochgekommen, Dinge, die sie lange versucht hatte zu verdrängen.
Sie streckte ihre Arme quer über den Tisch aus und ließ erschöpft das Gesicht nach vorne sinken. Ihre langen Haare breiteten sich neben ihr auf dem Tisch aus.
Isabelle verharrte einen Augenblick in dieser Haltung und setzte sich dann auf. Ihr Blick wanderte zur Tür der Kajüte.

Sie musste raus.

Sie zog ihre Schuhe aus, warf sie beiseite, öffnete die Schleife, die ihren langen roten Wickelrock zusammenhielt und ließ ihn zu Boden fallen.
Sie ging einige Schritte zu ihrem Bett, wo sie zuvor ihre Schiffsuniform abgelegt hatte. Sie griff nach der Hose, schlüpfte hinein, zog ihre hohen Stiefel an und wandte sich zur Tür.
Am Kleiderhaken neben der Tür hing ein schwerer dunkelgrauer, fast schwarzer Umhang mit Fell besetzter Kapuze. Sie zog ihn, als sie die Tür öffnete, vom Haken und legte ihn sich beim Hinausgehen um die Schultern.
Draußen war es empfindlich kalt geworden.
Als Isabelle den Fuß auf den Hafenboden setze, stülpte sie das weiße Fell der Kapuze über ihre schwarzen Haare und zog den Umhang vor ihrem Körper zusammen.
Ihr Blick wanderte über den Hafen. Sie hatte kein konkretes Ziel, sie wollte einfach nur raus aus der engen Kabine, Luft holen, einen klaren Kopf bekommen.

Sie schlenderte mit leisen Schritten über den Hafensteg. Bis auf einen jungen Seemann, der an eine Kiste gelehnt seinen Rausch ausschlief, war niemand zu sehen.
Langsam schritt Isabelle auf das Hafenkontor zu, wo sie am frühen Abend in Begleitung zweier Gardisten und der Adjudantin der Stadtgarde den Proviant für die nächsten Wochen gesichert hatte.
Sie knirschte mit den Zähnen, als sie das Kontor hinter sich ließ und in Richtung Stadtzentrum weiterging. Was wohl ihr Vater zu dem Verlust der Waren sagen würde?
Bevor sie am frühen Abend von Bord gegangen war, hatte sich Kapitän Geoffroy noch einen kurzen Überblick über das Gesamtmaß der Schäden verschafft und ihr mitgeteilt, dass mindestens die Hälfte der wertvollen Felle und Stoffe dem Meerwasser zum Opfer gefallen waren.

Während sie noch über den Verlust der wertvollen Güter nachdachte, kam sie wieder zum Keg and Anchor.
Ihre Gedanken schweiften ab zu der jungen Frau, mit der sie hier noch vor einer Stunde zusammen an einen Tisch gesessen hatte.
Sie kniff, immer noch einen unangenehmen Druck hinter der Stirn spürend, die Augen zusammen und blickte zum Himmel. Es war eine angenehme und sternenklare Nacht.
Isabelle schloss die Augen und atmete tief die kalte Luft ein, hielt den Atem einen Augenblick an, ließ dann die Luft aus ihrer Lunge entweichen. Langsam öffnete sie wieder die Augen und betrachtete abermals den Eingang des Keg and Anchors.
„Warum musste ich ausgerechnet auf sie treffen, warum konnte sie nicht einfach nur die Adjudantin der Garde sein?“ Isabelles Gesicht strahlte eine eisige Kälte aus. Sie schloss wieder die Augen und versuchte sich zu beherrschen. Sie wusste, was es war, dass sich langsam, wie eine Krankheit in ihr ausbreitete...Eifersucht.
Sie dachte an das hübsche zierliche Wesen mit den lila Haaren, das in ihren Augen so gar nicht zu ihm passte.
Oder vielleicht doch? Er hatte ihr häufig genug vorgeworfen gehabt, dass sie ihn nie richtig verstehen würde, die Bindung zu seiner Familie oder dem, was noch davon übrig war.
Isabelle dachte an seinen Vater, der ihr bei ihrer letzten Begegnung verraten hatte, dass er nach Trinsic gegangen war.
„Der alte Mann hätte es lieber für sich behalten sollen“, murmelte sie grimmig.
Aber in ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie ihm Unrecht tat.
Eigentlich empfand sie auch keinen Zorn für die junge Elfin. Sie hatte ihr nicht ohne Grund zum Abschied alles Gute gewünscht.
Überhaupt ärgerte sie sich am meisten über sich selbst. Sie hatte sich geschworen, einen Strich unter die ganze Angelegenheit zu machen, ihn zu vergessen.

Sie zog ihren Mantel enger um ihre schlanke Taille und ging weiter, ließ das Keg and Anchor hinter sich.
Ein betrunkener Bursche lallte ihr laut hinterher. „Naaaa meinäää Hübschäää wieee wäärschs midd uuunsch?"
Isabelle zog ihre Kapuze tiefer in ihr Gesicht, während sie den Mann links liegen ließ und schlug den Weg zurück in Richtung Hafen ein.
Sie rümpfte angewidert die Nase und musste unweigerlich an diesen Gardisten denken, der sie zuvor, als sie im Gefängnis der Stadt der Garde Informationen über die Piraten überbracht hatte, mit penetranter Art und Weise versuchte hatte, sich bei ihr einzuschmeicheln.
Isabelle lächelte kalt. Unter anderen Umständen wäre er für einen kurzen Moment der Zerstreuung vielleicht nicht die schlechteste Wahl gewesen, aber im Grunde konnte sie solchen Männern nichts abgewinnen.
Außerdem hatte sie bei weitem andere Probleme gehabt.

Ihre Schritte wurden schneller.
Sie wollte nur weg, sie hatte genug von Trinsic gesehen, sollte diese Frau mit ihm glücklich werden.
Isabelle betrat ihr Schiff, rauschte an der Wache vorbei und verschwand in ihrer Kajüte. Sie konnte sich gerade noch bremsen, die Tür hinter sich zuzuknallen.
Sie ließ sich erschöpft mit dem Rücken gegen die Tür fallen und starrte geradeaus.
Ihr Blick fiel auf ihre große braune Tasche, die immer noch auf dem Tisch stand, wo sie sie zuvor abgestellt hatte.
Die Tasche war das einzige an ihr, was nie so recht zu ihr passen wollte. Sie sah sehr alt aus und das braune, dunkle, speckige Leder war an vielen Stellen zerkratzt.
Nicht einmal Isabelles Vater wusste, warum sie so sehr an dieser Tasche hing, geschweige denn, woher sie diese überhaupt hatte. Wie viele Male hatte er sie bereits getadelt, weil sie das in seinen Augen alte schäbige Ding immer bei sich trug, selbst er wenn sie sich mit ihm zusammen in der feinen Gesellschaft bewegte.
Isabelle atmete tief durch, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
Sie öffnete den schweren Mantel, schob ihn auf den Kleiderhaken neben sich und schritt auf den Tisch mit der Tasche zu.
Isabelle ließ ihre rechte Hand in die Tasche gleiten und holte vorsichtig ein zusammengerolltes Stück Leder hervor.
Ein zaghaftes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Kapitän Geoffroy war der einzige, der außer ihr noch wusste, was geschützt zwischen dem Leder verborgen lag.
Erschöpft ließ sich Isabelle in ihren Sessel fallen und drückte das zusammengerollte Leder an ihre Brust. Sie schloss erneut die Augen und versuchte die schlechten Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen.
„Wir müssen zu Vater und ihm von dem Verlust berichten. Danach werde ich meinen eigenen Kurs festlegen. Soll er sagen, was er will!“ Während sie die letzten Worte dachte, ließ sie erschöpft und müde das Leder in ihren Schoß sinken.

Am nächsten Morgen stand Isabelle Duchene in aufrechter Haltung neben Kapitän Geoffroy und suchte mit dem Fernrohr den Horizont ab. Der alte Mann betrachtete lächelnd die junge Frau neben sich.
„Hm....kann ich etwas für euch tun?“ Isabelle, die seinen Blick aus dem Augenwinkel bemerkte, drehte sich ihm zu und reichte ihm das Fernrohr. Kapitän Geoffroy lächelte verlegen, als seine Finger das Fernrohr umschlossen.
„Nein, Lady Duchene, es ist alles in bester Ordnung“, antwortete er. „Es ist eine Freude, euch anzusehen. Fast könnte man meinen, dass die letzten Tage spurlos an euch vorübergegangen sind.“
Isabelle warf ihr Haar zurück und senkte den Blick.
„Ich wünschte, es wäre so“, erwiderte sie leise.
„Nun...wo soll die Fahrt als nächstes hingehen? Heim zu eurem Vater?
„Aye, ganz recht. Und anschließend...“ Isabelle klopfte auf das braune Leder ihrer Tasche, die sie nun wieder an ihrer Seite trug.
Kapitän Geoffroy nickte verstehend und lächelte.
Isabelle wandte sich wieder ab und schaute über das Meer, blinzelte der aufgehenden Sonne entgegen.
Sie grinste leicht, als sie ihren Satz beendete.

„...der Sonne nach!“
 
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Auf den Drachen gekommen​


Acht Jahre zuvor...

Obwohl es erst früh am Morgen war, flimmerte die Luft schon in der sommerlichen Hitze.
Die Nujel'mer kannten es nicht anders. Mit etwas Glück brachte ein leichter Seewind Erfrischung, mehr war in dieser Jahreszeit nicht zu erhoffen.
Die Stimmung an dem kleinen Tisch, den man an Deck der Ariane aufgestellt hatte, stand im absoluten Gegensatz zu dem heißen Klima.
Zwischen den beiden Personen, die gemeinsam ihr Frühstück einnahmen, herrschte eine frostige Kälte.
"Wie lange willst du so weitermachen, Isabelle? Willst du warten, bis deine besten Jahre vorbei sind?
Du bist jetzt zwanzig Jahre alt. Ich war zu diesem Zeitpunkt schon ein Jahr lang mit deinem Vater verheiratet und du..."
"...warst auf dem Weg, das Licht der Welt zu erblicken...ich weiß Mutter", erwiderte Isabelle gereizt und starrte auf ihren Teller, der gefüllt war mit exotischen Früchten, die verführerisch dufteten.
Isabelle aber war der Appetit vergangen.
Ihre dunklen Augen wanderten über den gedeckten Tisch, streiften das Gesicht ihrer Mutter und verloren sich in der weiten Ferne der See.
Warum nur hatte Isabelles Vater darauf bestanden, dass ihre Mutter sie auf dieser Reise begleitete? Hatte er immer noch nicht genug Vertrauen in ihre Fähigkeiten?
"Warum antwortest du mir nicht Isabelle?" Ihre Mutter blickte sie herausfordernd an.
"Ach, du erwartest tatsächlich eine Antwort? Ich dachte, du hättest das eher rhetorisch gemeint. Schließlich haben wir mehr als häufig genug darüber gesprochen. War es nicht gerade erst vor zwei Tagen, dass...", antwortete Isabelle ironisch und mied weiterhin den Blick ihrer Mutter.
"Du bist eine Schande für deinen Vater, Isabelle. Ich verstehe dich einfach nicht. Du hättest sie alle haben können - den gutaussehenden Sohn des Gewürzhändlers, den stattlichen Bankierssohn, den..."
Isabelles Mutter unterbrach den Satz und trank einen Schluck von ihrem Tee.
"Und dann noch der Abbruch des Magiestudiums. Weißt du eigentlich, wieviel dich das deinen Vater gekostet hat?"
"Natürlich weiß ich das...du hast es mir schließlich...lass mich überlegen...mehr als hundertmal bestimmt erzählt", erwiderte Isabelle spöttisch.
"Überlege gut, was du sagst, Isabelle. Ich werde deinem Vater nach unserer Rückkehr alles berichten. Denke nicht, dass der Entschluss, dir die Ariane zu übergeben, endgültig war."
Isabelle warf ihrer Mutter einen kühlen Blick über den Tisch zu. Das war also der Grund für ihre Anwesenheit. Offenbar stand es um Isabelles Ansehen bei ihrem Vater bei weitem nicht mehr so gut, wie sie dachte.

Isabelle musterte ihre Mutter still. Alia Duchenne konnte durchaus als beeindruckende Frau bezeichnet werden. Sie überragte Isabelle noch um einen halben Kopf, wobei Isabelle schon nicht klein war.
Alia trug ihr langes, tiefschwarzes Haar offen über ihren Schulter, ihre Augen waren fast ebenso dunkel.
Ihr wohl gerundeter Körper war in leuchtende Farben gehüllt, die einen auffälligen Kontrast zu ihrem dunklen Teint bildeten.
Um ihren Hals trug sie eine aufwändige, goldene Halskette, in deren Anhänger ein großer, perfekt geschliffener Rubin eingefasst war. Ihre Finger wurden von ebenso prächtigen Ringen, die mit verschiedenen funkelnden Edelsteinen besetzt waren, geschmückt.
Ihr Gesicht wirkte ernst und stets über den Dingen erhaben. Dennoch hatte sie eine faszinierende Ausstrahlung, der sich nur wenige entziehen konnten.
Zudem spürte man hinter ihrer ernsten Fassade ihr feuriges Temperament, dass Isabelle so häufig zu schaffen machte.
Isabelle war das alles sehr fremd. Sie selbst wirkte mit ihrer zurückhaltenden, bedächtigen Art auf viele Menschen eher reserviert - eine Eigenschaften, mit der sie ihrem Vater näher stand.
Alia entgegnete den beobachtenden Blick ihrer Tochter mit leichtem Kopfnicken.
"Ja, du hast ganz richtig gehört. Sei dir deiner nicht so sicher. Vielleicht wird die erste Fahrt mit der Ariane auch deine letzte sein - jedenfalls unter deinem Kommando."
Isabelle spürte, wie der Zorn in ihr aufstieg. Sie überlegte, was sie ihrer Mutter antworten sollte, als ihr Blick auf einen der an Bord verbliebenen Matrosen fiel.
Nein - diese Blöße wollte sie sich nicht weiter geben. Die Mannschaft hatte schon viel zu viele dieser Diskussionen mitbekommen.
Isabelle griff sich eine Weintraube von ihrem Teller, schob sie sich zwischen ihre vollen Lippen und erhob sich von ihrem Stuhl.
"Mutter, ich werde dich jetzt verlassen. Ich muss verschiedenen Verpflichtungen an Land nachkommen. Du weißt schon...Dinge, die mit dem Hafenmeister zu regeln sind und so..."
Ohne auf eine Antwort ihrer Mutter zu warten, schob sie eine zweite Weintraube in ihren Mund und machte sich eilig daran, die Ariane zu verlassen.

Nachdem sie das Schiff einige Meter hinter sich gelassen hatte, blieb Isabelle stehen, drehte sich um und ließ ihren Blick über das stolze Schiff wandern, das in den Farben des Familienwappens der Duchenes, den Farben blau und weiß, erstrahlte.
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie würde es ihrem Vater schon beweisen. Diese Mal würde sie das tun, was man von ihr erwartete, denn das war es, wonach sie sich so lange gesehnt hatte: in weit entlegene Winkel der Welt reisen, verschiedene Menschen und Kulturen erleben oder was sonst noch für Wunder auf ihren Reisen auf sie warten sollten. In die Ferne schweifen, ungebunden sein...

Sie machte sich auf den Weg in das Zentrum der Stadt.
Die Luft wurde allmählich immer stickiger und die Hauswände reflektierten die Sonnenstrahlen mit einer Intensität, dass man sich in den Gassen nur aufhalten mochte, wenn sich der Schatten dazu erbarmte, seine schützende Hand über einen zu legen.
"Ich hätte meine Schiffsuniform an Bord lassen sollen", dachte Isabelle, während sie den obersten Knopf ihrer weißen Bluse öffnete.
Ein betörender Duft nach Gewürzen und andere exotische Gerüche umspielten ihre Nase.
Sie ließ sich davon auf eine breite Gasse leiten, folgte den anschwellenden Geräuschen, die an ihr Ohr drangen und fand sich auf dem großen Marktplatz von Nujel'm wieder.
Die Märkte waren bekannte Attraktionen in Nujel'm. Hier konnte der interessierte Besucher beispielsweise nicht nur paradiesisches Obst, feinste Stoffe und erlesenen Schmuck erwerben, sondern ihm wurde ein Unterhaltungsprogramm der ganz besonderen Art von verschiedensten Schaustellern geboten. Da gab es einen Zauberkünstler, der mit Flammen und Rauch die Leute zu verblüffen wusste, eine Tänzerin, die mit geschmeidigen Bewegungen ihren Körper in die unglaublichsten Formen verbiegen konnte, einen Geschichtenerzähler, der dicht umringt von zahllosen Kindern von längst vergessen Abenteuern und Legenden erzählte.

Isabelle beschloss, ihr spärliches Frühstück nachzuholen und beobachtete dabei gespannt das bunte Treiben auf dem Marktplatz. Die Nujel'mer waren so völlig anders als die Leute aus Britain. Und selbst wenn ihre Mutter von hier stammte, hatte Isabelle nie richtig Zugang zu der Mentalität der Nujel'mer finden können.
Trotzdem genoss sie es immer sehr hier zu sein. Schon bei früheren Reisen, bei denen sie ihren Vater begleitet hatte, hatte sie die Insel in ihren Bann gezogen.

Nachdem sie eine Weile die Menge beobachte hatte, fiel Isabelle ein rotes Zelt auf, vor dem ein kugelrunder Mann stand und mit ausschweifender, einladender Armbewegung die Passanten in sein Zelt einlud.
Isabelle bezahlte ihr Frühstück und ließ sich mit der Menschenmenge auf das Zelt zu treiben.
"Kommt herein verehrte Damen und Herren, liebe Kinder...schaut euch das wundersamste Geschöpf an, das diese Welt je gesehen hat...so etwas werdet ihr nie wieder zu Gesicht bekommen", pries der dicke Mann seine Attraktion an. "Für nur 5 Goldstücke erhaltet ihr Einlass, um dieses wundervolle Wesen zu bestaunen!"
Isabelle ließ die geforderten Goldstücke in die Hand des Mannes fallen und betrat neugierig das Zelt.
In dessen Mitte befand sich ein großer, runder Käfig, der fest mit einem eisernen Sockel verbunden war, den man in den Boden eingelassen hatte.
Um den Käfig standen mit Ah- und Oh-Rufen die Leute gedrängt und bestaunten das seltsame Wesen, dass sich hinter den Gitterstäben verbarg.
Isabelle ging näher an den Käfig heran, schob sich an zwei anderen Besuchern vorbei, um sich selber ein Bild zu machen.
Ihre Augen weiteten sich vor Erstaunen, als sie sah, was sich hinter den stabilen Gittern verbarg.
Zusammengekauert und nervös um sich blickend, lag ein schneeweißer, kleiner Drache in dem Käfig. Seine bläulichen, matten Augen blickten unruhig von einem Besucher zum anderen.
Isabelle ging ganz nah an den Käfig heran, so dass der Drachen fast zum Greifen nahe war.
Sie studierte fasziniert den eleganten Körper des kleinen Geschöpfes. Die junge Bestie war so groß wie ein kleines Schoßhündchen und konnte noch nicht allzu alt sein.
Isabelle erinnerte sich wieder an die Geschichten und Legenden, die man ihr, als sie noch ein kleines Kind war, über die weißen Drachen erzählt hatte. Geschichten von uralten, mächtigen Wesen, die vor Jahrtausenden geboren worden waren, als noch dicke Eismassen einen Großteil des Landes bedeckt hatten. Als das Eis mit den Zeitaltern immer weniger geworden war, zogen sich die weißen Drachen zurück und starben aus. Aber man erzählte sich, dass einige wenige Exemplare dieser Spezies überlebt hatten und seitdem in verborgenen Höhlen lebten, die das Eis über die Jahrtausende bewahrt hatten.

Das weiße Schuppenkleid des Drachen spiegelte sanft das Licht der Lampen in dem Zelt wider.
Isabelle näherte ihre Hand den Gitterstäben und ließ ihre Finger über die Gitterstäbe gleiten, als wollte sie mit ihnen die schuppige Haut des Drachen berühren.
Die Stäbe waren eisig kalt und sie spürte ein eigenartiges Kribbeln unter ihren Fingerkuppen. Offenbar hatte der Mann vor dem Zelt den Käfig mit magischem Zauber versehen, um den Drachen am Ausbrechen zu hindern.
Isabelle beobachtete das kleine Geschöpf lange Zeit, bis ihre anfängliche Faszination für den Drachen in Mitleid umschlug.
Sie stellte sich vor, wie unerträglich das Wesen in der brütenden Hitze Nujel'ms leiden musste.
Nein – es gehörte einfach nicht hierher!

Dann traf Isabelles Blick auf den des kleinen Drachen.
Sie zuckte zusammen. Etwas eigenartiges war geschehen. Plötzlich fühlte sie sich endlos traurig. Isabelle wusste nicht warum, aber eine Welle aus Hoffnungslosigkeit und Dunkelheit überfiel ihr Gemüt und breitete sich in ihr aus.
Sie ließ von den Gitterstäben ab und wandte sich ab.
Erst eine, dann zwei Tränen liefen ihr über das Gesicht und sie fühlte das übermächtige Verlangen, den Ort so schnell wie möglich zu verlassen.
Sie setze einen Fuß vor den anderen und hatte fast den Ausgang des Zeltes erreicht, als sie ein weiteres Gefühl überkam, dass sie zum Halten zwang. Eigentlich war es nicht direkt ein Gefühl, vielmehr schien es ihr so, als ob etwas in ihren Kopf eindrang, ihre Sinne berührte. Etwas zerrte an ihr, wollte sie dazu bewegen, sich umzudrehen und plötzlich hörte sie einen lauten, fremdartigen Schrei.
Isabelle fuhr herum.
Die Leute um den Käfig waren zurückgetreten. Ein Raunen ging durch die Menge.
Isabelle blickte auf den Käfig.
Der weiße Drache saß gerade mit erhobenem Haupt hinter den Gitterstäben und blickte sie mit weit geöffneten Augen an.
Isabelle stand starr an dem Fleck, an dem sie zum Halten gekommen war. Sie brauchte eine Weile um zu verstehen, was eigentlich passiert war.
Während die ersten Schaulustigen begannen, sie misstrauisch zu beäugen, saß der Drache immer noch regungslos da. Seine Augen wirkten nicht mehr matt und kraftlos, sondern waren von einem seltsamen magischen Leuchten erfüllt und sie waren immer noch direkt auf Isabelle gerichtet.
Wieder berührte dieses seltsame, fremde Gefühl Isabelles Sinne, formte Bilder in ihrem Kopf, Bilder von schneebedeckten Landschaften, vor Kälte erstarrten Meeren und gigantischen Eisbergen. Das Bild wurde kleiner, schien sich auf einen Punkt zu fokussieren und endete vor einem riesigen weißen Drachen, der seine Schwingen ausbreitete und in der Ferne verschwand.
Isabelle wusste, was es zu bedeuten hatte.
Sie drehte sich um, ohne der murmelnden Menge weiter Gehör zu schenken und verließ eilig das Zelt.
Draußen vor dem Eingang baute sie sich vor dem Dicken Mann auf, der, seine Hände entspannt auf seinem fetten Wanst abgelegt, das bunte Treiben auf dem Markt beobachtete. Anscheinend war der Schrei des Drachen durch den Lärm auf dem Marktplatz übertönt worden.
Der Mann blickte Isabelle interessiert an.
„Werte Dame, womit kann ich euch dienen – habt ihr schon meine einzigartige Errungenschaft gesehen?“
„Ja, das habe ich. Und ich möchte ihn euch abkaufen“, kam Isabelle direkt auf den Punkt.
Der dicke Mann weitete seine Augen, öffnete seine wulstigen Lippen und begann lauthals zu lachen.
Isabelle schaute ihn irritiert an.
Der Bauch des Mannes bebte immer noch von seinem Gelächter, als er versuchte, wieder ein Wort zu fassen.
„Nein, nein, nein...das ist völlig ausgeschlossen“, erwiderte er. „Das kleine Ding dort drin wird noch einen reichen Mann aus mir machen – der Drachen ist unverkäuflich!“
Aber so leicht ließ sich Isabelle nicht abwimmeln. Sie kannte die nujel'mer Händlerseele und ahnte, dass sie lange um die Freiheit des Drachen würde feilschen müssen.
„Ich kann euch sehr viel Gold bieten, mehr als euch der Drache in den nächsten Jahren einbringen dürfte.“ Sie kreuzte ihre Arme hinter dem Rücken und versuchte, sich noch größer zu machen, als sie war.
„Also was verlangt ihr?“
Der Blick des dicken Mannes wanderte über ihren Körper, der in der maßgeschneiderten Uniform steckte, und glotzte auf Isabelles stramme Brüste, als ginge es nicht um den Preis des Drachen, sondern um etwas vollkommen anderes.
Er brauchte ein paar Sekunden, um seine Augen wieder unter Kontrolle zu bekommen, als Isabelle die Frage wiederholte.
„Was verlangt ihr für den Drachen?“
Fasziniert von ihrer Beharrlichkeit und offenkundig von ihren übrigen Reizen angetan, setzte der Mann ein nachdenkliches Gesicht auf.
„Also lasst mich überlegen.“ Es überschlug im Kopf, was der Drache ihm einbringen könnte und antworte mit seelenruhiger Gelassenheit.
„Eine Million Goldstücke!“
Isabelle fiel fast die Kinnlade runter.
„Das ist nicht euer Ernst!“
„Doch, ist es. Und das ist noch ein sehr, sehr fairer Preis. Überlegt doch einmal, was für ein Vermögen der Drachen wert ist. Sollte er irgendwann zu groß für seinen Käfig werden, kann ich ihn immer noch gewinnbringend an einen Sammler exotischer Tiere verkaufen.
Vielleicht gibt es Gelehrte, die ihn für wissenschaftliche Zwecke sezieren möchten“, ergänzte der Mann mit boshaftem Lächeln und lachte wieder, dass sein Wanst wackelte.
„Ich gebe euch fünfhunderttausend Goldstücke“, nahm Isabelle einen weiteren Anlauf.
„Eineinhalb Millionen!“ Die Miene des Mannes wurde ernst.
„Hey...so geht das nicht. Eben sagtet ihr noch eine Million!“ Isabelle stemmte empört ihre Hände in die Hüften und fixierte den Mann mit durchdringendem Blick.
Der Mann schüttelte erhaben den Kopf.
„Ich rücke kein einziges Goldstück von meinem Angebot ab. Zahlt den Preis oder verschwindet!“
Der Mann holt zu einer weiten Armbewegung aus und zeigte zu einem Punkt in der Ferne.
Seine Stimme klang nun nicht mehr freundlich, sondern hart und abweisend.
Isabelle löste die Hände hinter ihrem Rücken, lockerte ihre Haltung und wandte sich von dem Mann ab.

Es vergingen einige Stunden und die Hitze wurde erträglicher. Die Händler und Schausteller hatten mittlerweile ihre Stände abgebaut, die Passanten hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen oder waren in eine der vielen Tavernen eingekehrt.
Friedliche Stille lag über dem Marktplatz, vereinzelt hörte man noch das Singen eines Vogels, der die Nacht begrüßte.
Ein Schatten huschte in das Zelt des dicken Mannes mit dem kleinen Drachen.
Der Käfig des kleinen Drachen war von einer dünnen, schwach strahlenden Aura umgeben, die Isabelle erst jetzt in der Dunkelheit der Nacht auffiel.
Vorsichtig blickte sie sich forschend im dem Zelt um, lauschte in die Nacht hinein, aber außer ihr und dem Drachen schien niemand dort gewesen zu sein.
Sie ließ die Kapuze ihres Umhangs auf ihre Schultern sinken und schüttelte ihr lange Haar nach hinten.
Leise murmelte Isabelle zwei magische Worte.
Ihre Augen nahmen einen gelblichen Glanz an und ihre Pupillen weiteten sich.
Nochmals suchte sie misstrauisch das Zelt ab, dass sich nun ihren katzenhaften Augen in seiner vollen Gänze zeigte und schritt dann entschlossen auf den Käfig mit dem Drachen zu.

Das kleine Geschöpf spürte ihre Anwesenheit sofort, rappelte sich auf und setzte sich wie zuvor aufrecht hin.
„Pscht...es wird alles gut, ich hole dich hier raus“, flüsterte Isabelle mit beruhigender Stimme.
Sie wartete auf eine Reaktion des Drachen und es war ihr, als würde das fremdartige Wesen lächeln.
Vorsichtig legte Isabelle eine Hand an die Gitter des Käfigs. Wieder spürte sie dieses leichte Kribbeln unter ihren Fingerkuppen.
„Erste Lektion im Öffnen von magischen Schlössern – werdet eins mit der Magie, die die magische Barriere aufrecht erhält“, rezitierte sie in Gedanken die Worte des alten Meisters Bartholomäus, der sie so häufig mit seinen langweiligen Litaneien fast zum Einschlafen gebracht hatte.
In diesem Moment war sie froh, diese Lektion nicht verschlafen zu haben.
Es dauerte eine Weile, bis sie Zugang zu dem magischen Schloss gefunden hatte, dann ging es plötzlich überraschend schnell. Die Luft wurde von einem leisen Knistern erfüllt, als weitere magische Worte über Isabelles Lippen kamen und die magische Barriere zerbrach.
Das rötliche Schimmern um den kleinen Käfig war fort.
Überrascht zog Isabelle ihre Hand von den Gitterstäben zurück. Wie konnte das sein?
Wenn dem Mann das Geschöpf in dem Käfig so viel wert war, warum war der Käfig nur so schwach gesichert gewesen?
Vorsichtig ging Isabelle einige Schritte zurück und musterte misstrauisch das Podest.
Plötzlich nahm wieder dieses seltsame Gefühl Besitz von ihr. Etwas schien sie sanft im Geiste zu berühren, sich in ihren Kopf zu schleichen. Sie schloss die Augen und sah das Gesicht des kleinen Drachen vor Augen, wie zum Anfassen nah. Sein Gesicht kam langsam näher, so nah, bis eines seiner blau leuchtenden Augen fast ihr gesamtes Sichtfeld einnahm.
Erst jetzt nahm sie wahr, dass das blaue Schimmern in dem Auge des Drachens keine feste Form hatte, sondern sich langsam, wie ein Fluss aus blauer Lava um seine Pupille drehte.
Isabelle überlegte, was der Drache ihr mitteilen wollte.
Sie öffnete ihre Augen und blickte nun den Drachen direkt an, auf dessen Gesicht sich wieder die Spur eines Lächelns abzeichnete.
Dann bewegte sich der kleine Kopf des Drachens in Richtung Gitter und wieder zurück.
Allmählich dämmerte es Isabelle. Der Drache musste ihr geholfen haben. Seine eigene Kraft hatte nicht ausgereicht, um die magische Barriere zu zerstören, aber er hatte Isabelles Magie unterstützt.
Das kleine, weiße Wesen machte eine kurze nickende Kopfbewegung, als wollte es Isabelles Gedanken bestätigen.
Isabelle schmunzelte und legte ihre Hand um das Schloss des Käfigs. Sie schloss die Augen und ließ ihre Magie durch das kalte Eisen fließen.
Mit einem leisem Klacken öffnete sich das Schloss und viel zu Boden.
Wieder nickte ihr der Drache zu und lächelte zufrieden.

Nur wenige Minuten später verließ der dunkle Schatten wieder eilig das bunte Zelt des Schaustellers, dieses Mal mit einem kleinen Bündel unter dem Arm.
Der Käfig in dem Zelt stand immer noch offen, aber von dem Drachen fehlte nun jede Spur.
Statt des kleinen exotischen Geschöpfes lag jetzt ein Beutel aus schwarzem Samt hinter den Gitterstäben. In dem Beutel befanden sich unzählige Edelsteine, die zusammen etwa dem Wert von zweihunderttausend Goldstücken entsprachen – eine Summe, die Isabelle als Preis für den Drachen als angemessen erschien.
 
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