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Der Phönix erhebt sich

Abrechnung​

Die sommerliche Luft war drückend schwül in der luxuriösen Suite des Nujel'm Inn.
Eine sanfte Brise vom Meer sorgte für einen Hauch frische Luft und wirbelte die durchsichtigen Vorhänge des weit geöffneten Balkons auf.
Taryk, in bestimmten Kreisen auch als Taryk die Schlange bekannt, lag nackt auf seinem Bett und wälzte sich unruhig hin und her.
Zur selben Zeit machte sich am Fuße der Gebäudewand eine vermummte Gestalt bereit zum Aufstieg.

Einatmen, ausatmen, anspannen, Sprung...

Die schwarz gekleidete Gestalt erklomm geschickt eine Palme, die knapp über dem Balkon der großen Suite endete, in der Taryk die Schlange derweil versuchte, seinen Schlaf zu finden.
Oben angekommen setzte die schlanke Gestalt zu einem weiteren Sprung an, drückte sich geschmeidig wie eine Katze von der Palme ab und landete lautlos auf dem großen Balkon.

Ein Handgriff nach hinten auf den Rücken, ein leises, klackendes Geräusch. Alles war bereit...

Taryk fand immer noch keinen Schlaf bei der schwülen Hitze.
Er setzte sich am Kopfende des Bettes auf, rieb sich verschlafen die Augen und richtete seinen müden Blick auf den offen stehenden Balkon.

Und er erschrak...

Zwischen den beiden Türflügeln stand wie aus dem Nichts erschienen die in schwarz gekleidete Gestalt.
Wie die enge Kleidung, die sich um ihren schlanken Körper schmiegte, verriet, versteckte eine gut gebaute Frau von durchschnittlicher Größe ihr wahres Antlitz unter dem schwarzen, matten Stoff.
Selbst ihr Gesicht war vermummt und nur ein schmaler Schlitz ließ den Blick auf ihre Augen frei.
Taryk versuchte die Augen der Frau zu erkennen, aber im Grunde war es weniger ihr verdecktes Äußeres, was ihm Sorgen bereitete, sondern die kleine Armbrust, die die Unbekannte geradewegs auf ihn zielend in ihrer rechten Hand hielt.

„Wer...wer seid ihr? Wenn ihr Gold wollt...“, stammelte er und machte Anstalten, sich aus seinem Bett zu bewegen.
Die schwarze Gestalt hob ihre linke Hand und deutete ihm, sich wieder wie zuvor auf sein Bett zu legen.
Taryk gefiel das Ganze ganz und gar nicht. Er zog mit einer Hand die Bettdecke über seine Blöße und starrte unruhig die fremde Gestalt an.
Diese rührte sich keinen Millimeter, stand einfach nur aufrecht zwischen den Türflügeln und zielte immer noch direkt auf sein Gesicht.

„Wer...was...“, fragte Taryk mit zitternder Stimme.
Die vermummte Gestalt hob wieder ihre linke Hand, führte sie aber dieses Mal an ihren Hals, griff unter die Maske und zog diese mit einer langsamen Bewegung nach oben über ihren Kopf.

Taryk begriff endlich, wenn er vor sich hatte. Seine Befürchtungen bestätigten sich.

„Du...“ Mehr als das kam nicht über seine Lippen. Seine Stimme klang heiser und trocken.
Die junge Frau vor ihm warf die Maske zu Boden, öffnete mit einem kurzen Handgriff ihr Haar, dass sie hinter dem Kopf zusammengebunden hatte und warf es nach hinten über ihre Schultern.
Taryk starrte auf das leicht gelockte rote Haar, dass er so viele Male berührt hatte, genauso wie die weiche, blasse Haut des hübschen Gesichts, aus dem ihm jetzt zwei helllblaue Augen eiskalt anblickten.
„So soll es also enden...ein Bolzen aus deiner Armbrust? Mehr hast du nicht für mich übrig?“

Für einen winzigen Moment sah es so aus, als wenn sich etwas in dem Gesicht der Frau vor ihm regen würde - ein Blinzeln, ein Ausdruck der Unentschlossenheit, aber im nächsten Augenblick gefroren ihre Gesichtszüge wieder.

Taryk hörte sein Herz schlagen, lauter, immer schneller...

Er blickte fest in die Augen der rothaarigen Frau und versuchte so etwas wie einen Funken Mitgefühl zu finden - aber er suchte vergebens.
Während sich beide eine gefühlte Ewigkeit wortlos angestarrten, bahnte sich eine Träne ihren Weg über die Wange der Rothaarigen.
Taryk wusste nicht, ob es eine Träne der Trauer, des Zornes, der Verzweiflung oder gar der Erleichterung war.

Er würde es auch nie erfahren...

Mit einem leisen Zischen schnellte der Bolzen aus der Armbrust und bohrte sich mit einem hässlichen Knirschen in Taryks Stirn.
Seine vor Entsetzen weit aufgerissenen leblosen Augen starrten immer noch in das Gesicht der Rothaarigen.

Diese verharrte regungslos an ihrem Platz. Die Träne lief langsam weiter über ihr Kinn, tropfte auf ihr schwarzes Oberteil.
Langsam öffneten sich die Lippen der schönen Frau.
„Nur ein Bolzen? Ein Bolzen war schon zu viel für dich.“, flüsterte sie zynisch, wischte eine weitere Träne ab und wandte sich von ihm ab.
Eilig und genauso lautlos wie sie gekommen war, verließ sie die Suite.

Die Schlange war erledigt – sie war endlich frei.
 
Überfahrt


Die Bashair war nie dazu gedacht gewesen, um Passagiere zu transportieren. Ihr eigentlicher Zweck lag darin, wertvolle Güter von einem Ort zu einem anderen zu schaffen und das möglichst schnell und sicher. Das prächtige, wehrhafte Schiff hatte den Ruf erworben, diese Aufgaben immer immer zuverlässig zu erfüllen und so verwunderte es nicht, dass der Kapitän der Bashair mit der Zeit nicht nur beträchtliches Ansehen, sondern auch eine recht beachtliche Menge Gold erworben hatte.
Es gab aber noch einen weiteren Grund, weshalb die Bashair unter gewissen Leuten einen guten Ruf hatte.
Wenn wenig Waren an Bord waren, was im Übrigen nur sehr selten vor kam, ließ der Kapitän der Bashair einen Teil seines Laderaumes als Unterkunft für Passagiere herrichten.
Dabei ging es den Passagieren der Bashair weniger um den Komfort an Bord, wenn man überhaupt von so etwas überhaupt sprechen konnte, sondern darum, möglichst schnell und unerkannt zu reisen. Und auch das erfüllte die Bashair stets zuverlässig.
Selbstredend hatte es alles seinen Preis. Ein gewöhnlicher Taschendieb mit einer Handvoll Gold hätte sich eine Überfahrt niemals leisten können.
Alleine die Bestechungssummen, damit die richtigen Leute ein Auge (oder besser gleich zwei) zukniffen, waren horrend.
So kam es, dass die Bashair an einem warmen Frühlingstag auf den Hafen Trinsics zusteuerte, wobei sich neben der üblichen Fracht auch eine kleine Gruppe eben dieser besagten Leute an Bord aufhielt.

Die Luft war stickig und roch verbraucht in dem großen Frachtraum. Den Passagieren war es zu ihrer eigenen Sicherheit nur einmal in der frühen Morgenstunde erlaubt, sich an Deck sehen zu lassen. Den Rest des Tages und der Nacht verbrachten sie in dem spärlich eingerichteten Raum und versuchten, das Beste aus der unbequemen Lage zu machen.
Manche vertrieben sich die Zeit mit Kartenspielen, andere saßen flüsternd zusammen und führten oberflächliche Unterhaltungen und wieder andere lagen teilnahmslos in ihren Hängematten.
Aber an diesem Tag erregte ein einzelner Mann die Aufmerksamkeit der übrigen Leute.
Er saß, einen Ellenbogen auf ein leeres Weinfass gestützt, in der Mitte des Raumes und schwenkte eine fast leere Flasche Rum in seiner Hand.
Schwarzbrenner Jack, so hatte ihn einer der anderen Männer an Bord genannt, sah aus wie ein alter Pirat. Sein rechtes Auge wurde von einer Augenklappe bedeckt, sein linkes Auge wurde von zahlreichen Narben eingerahmt, sein Gesicht war von Wind und Sonne gegerbt. Sein Haar war schneeweiß und stand wirr von seinem Kopf ab.
Ob er wirklich Schwarzbrenner Jack hieß, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Vermutlich lag auch ihm wenig daran, dass seine wahre Identität ans Tageslicht kam, weshalb sein Name wohl eher ein Hinweis auf seine Vorliebe war – den schwarzgebrannten Fusel, den er unentwegt in sich hinein kippte, ohne dabei auch nur eine Miene zu verziehen. Einer der Anwesenden hatte Schwarzbrenner Jack über ihr gemeinsames Fahrtziel ausgefragt und mit der Zeit hatten sich immer mehr Leute zu den beiden dazugesellt.
Im Grunde war es aber egal, wo man sich in dem kleinen Raum befand. Die vom Alkohol geschwängerte Stimme des redseligen Mannes dröhnte so laut durch den Raum, dass sowieso jeder der Anwesenden gezwungenermaßen zuhören musste.

„Ich sage euch...“, holte er mit lauter, aber klarer Stimme aus. „...Diese Dirnen waren das Beste, was der Herrgott unter dem Himmel jemals erschaffen hat, ihre Lenden waren...“
Weiter kam er nicht und wurde harsch von einer jungen Frau unterbrochen, die ihre Hände schützen auf die Ohren ihrer kleinen Tochter hielt.
„Jack ihr seid ein Schwein! Behaltet eure Geschichten bei euch und verschont meine Tochter mit euren schmutzigen Fantasien!“
„Ach Mädel, hab dich nicht so. Das bereitet dein Töchterchen auf das „wahre“ Leben vor“, erwiderte Jack lauthals lachend und unterstrich den Satz mit einem weiteren Schluck aus seiner Flasche.
Der Rum floss ihm aus dem rechten Mundwinkel über seine Unterlippe, als er die Flasche zu früh absetze und laut rülpste.
Die Junge Frau zog mit angeekeltem Gesicht ihre Tochter näher an sich heran und flüsterte dem Kind kopfschüttelnd etwas zu.
Einige der Anwesenden stimmten in das Gelächter Jacks ein, während andere es der jungen Frau gleich taten und sich abwandten.
Schwarzbrenner Jack führte seine Geschichte fort, ohne dabei auch nur eines ihrer schlüpfrigen Details auszulassen.
Aber er wusste weit mehr über Trinsic zu erzählen als von den schillernden Zeiten eines Etablissements, das sich das Reich der Sinne nannte. Da gab es Geschichten von der stolzen Garde der Stadt, von Dieben, die in den Schatten lebten, von Herrschern, die an die Macht kamen und diese ebenso wieder verloren, glorreichen Schlachten gegen mächtige Feinde, die gegen die „goldenen“ Mauern der Stadt nichts auszurichten vermocht hatten.

Etwas abseits von den übrigen Leuten saß eine junge Frau in einer Ecke des Raumes.
Mit blauen, funkelnden Augen klebte sie geradezu mit ihrem Blick an den Lippen des alten Haudegens und saugte jedes Wort, das seinen Mund verließ, neugierig in sich auf.
War Trinsic der Ort, nachdem sie gesucht hatte? Sie wusste es nicht genau, aber genauso wenig wollte sie ihr restliches Leben auf dem Wasser verbringen.
Eine halbe Ewigkeit schien es her gewesen zu sein, als die schöne rothaarige junge Frau das Schiff betreten und Nujel'm verlassen hatte.
Für immer und ewig – so hoffte sie jedenfalls.

So kam es, dass Cecile eines Morgens im Hafen von Trinsic stand, neben sich ein großer Seekoffer, der ihr gesamtes Hab und Gut beinhaltete.
Sie atmete tief durch und versuchte sich zu entspannen.
Die Überfahrt war anstrengend gewesen und die Ankunft im Hafen hatte ihr Übriges dazu getan, dass sie sich leer und ausgelaugt fühlte.
Selbst dem Kapitän der Bashair war nicht bekannt gewesen, in welchem Zustand sich die Stadt Trinsic befand.
Die Stadt war im Ausnahmezustand und kaum hatte das große Schiff im Hafen angelegt, gab es eine menge Leute, die eine Vielzahl unbequemer Fragen stellten, insbesondere, was die ungewöhnliche „Fracht“ an Bord der Bashair betraf.
Aber die Überfahrt war nicht umsonst so teuer gewesen. Gold wechselte von einer Hand in die andere und die Fragen verstummten.

Cecile blickte sich suchend um.
Sie trug ein schlichtes, aber hübsches, fliederfarbenes Kleid aus Leinen, das an der Taille mit einem geflochtenen Band zusammengeschnürt wurde. Ihre rechte Hand lag auf einem kleinen Beutel, dessen Inhalt leise klimperte, während sie nervös mit ihren Fingern an dem feinen Leder des Beutels herum nestelte.
Cecile fühlte sich unwohl und verschwitzt. Der Stoff ihres Kleides schien regelrecht an ihrem Körper zu kleben, ihre Haare lagen etwas wirr auf ihren Schulter und überhaupt kam sie sich in diesem Moment völlig fehl am Platze vor.
Ein Junger Mann eilte herbei und zog höflich seine Mütze vom Kopf, während er sie lächelnd ansprach.
„Darf ich euch helfen? Das dort sieht ziemlich schwer aus.“ Er schob seine Mütze auf seinem Kopf zurecht und blickte den Seekoffer an Ceciles Seite an.
Sie musterte den Mann von oben bis unten und kam zu dem Schluss, dass er wohl ein Hafenarbeiter sein musste.
„Ja, sehr gerne, habt Dank.“ Ein Lächeln umspielte ihre Lippen als sie zur Seite trat um den jungen Mann an ihren Koffer zu lassen.
„Hm...nicht sonderlich schwer“, meinte der Hafenarbeiter überrascht und hob den Koffer auf.
„Wo soll die Reise denn hingehen, junge Dame?“
„Wo kann eine junge Frau eine anständige Bleibe in eurer schönen Stadt finden?“
„Nun, das kommt ganz darauf an, was ihr gewillt seid, für eure Bleibe auszugeben.“
„Der Preis spielt vorerst keine Rolle“, erwiderte Cecile und blickte den jungen Mann abwartend an.
„Oh in diesem Fall habe ich etwas schönes für euch. Folgt mir bitte.“
Cecile folgte dem Hafenarbeiter und ließ ihren Blick dabei über die gelben, sandsteinfarbenen Mauern der Stadt wandern.
„Ja...“, dachte sie. „...vielleicht könnte es der richtige Ort sein.“
Endlich ließ ihre Anspannung nach und ihre Stimmung hellte sich wieder auf.
 
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Eine Frage des Preises​


Cecile streifte ihre Kleider ab, wickelte ihre langen Haare über ihren Kopf zusammen und tauchte prüfend die Zehenspitzen in das heiße Wasser.
Anschließend ließ sie sich langsam in die Wanne gleiten und seufzte zufrieden. Wie lange sie diesen Luxus entbehren musste... Der Duft des Wassers nach Kräutern und ätherischen Ölen beruhigte ihre Sinne. Sie griff nach dem Weinglas, das sie neben der Badewanne abgestellt hatte und führte es langsam an ihre Lippen. Das teuerste Zimmer im Traveler's Inn hatte seine Annehmlichkeiten.
Cecile war klar, dass sie sich das Zimmer nicht ewig leisten könnte, vor allem in Hinblick auf ihre eigentlichen Ziele, aber für den Moment genoss sie den Luxus.

Sie legte sich zurück und tauchte tiefer, bis zu den Ohren in das dampfende Wasser ein.
Ihre Muskeln entspannen sich und eine wohlige Wärme durchzog ihren Körper.
Ihre Gedanken schweiften ab und beschäftigten sich mit den vergangenen Stunden.
Sie erinnerte an den Moment, als Kadir Yazid die Taverne betreten hatte.
Für einen kurzen Augenblick hatte sie gedacht, ihr letztes Stündlein hätte geschlagen. In dem Moment, als der dunkelhäutige Mann eintrat, dachte sie nur noch an Flucht.
Cecile seufzte leise und ließ ein Stück Seife über ihren Arm gleiten.
„Du bist zu paranoid, Cecile“, flüsterte sie sich selbst zu. „Nicht jeder Dunkelhäutige ist automatisch ein Assassine aus Nujel'm. Du musst endlich ruhiger werden und einen kühlen Kopf bewahren.“
Sie ärgerte sich über sich selbst. Im Grunde war sie ein sehr aufgeschlossener Mensch, frei von Vorurteilen oder gar Fremdenhass, aber seitdem sie Nujel'm fluchtartig verlassen hatte, fühlte sie sich unsicher und auf Schritt und Tritt verfolgt und sah in jedem, der auch nur Ansatzweise aussah, wie jemand der aus Nujel'm kommen konnte, einen potentiellen Verfolger.

Sie dachte über Kadir nach.
Im Verlaufe ihres Gespräches meinte sie etwas an diesem Mann zu erkennen, das sie an Taryk erinnerte. Ob es sein Auftreten war, sein Aussehen, seine Art zu sprechen - sie wusste es nicht mit Sicherheit. Vielleicht war es auch alles gemeinsam. Je mehr sie mit ihm gesprochen hatte, desto häufiger musste sie an Taryk denken, an frühere Zeiten, in denen er noch gut zu ihr gewesen war, ihr Beschützer, ihr Liebhaber.
Aber diese Zeiten waren lange her gewesen...

Sie wandte ihre Gedanken wieder der Gegenwart zu und ihren Plänen, denen sie an diesem Abend einen großen Schritt näher gekommen war.
Eigentlich war sie in die Taverne gegangen, um auf andere Gedanken zu kommen. Ihre ursprünglichen Plänen schienen in weite Ferne gerückt zu sein, nachdem sie erfahren hatte, in welchem desolaten Zustand sich die Stadt diese Tage befand.
Ihr Traum war wie ein Luftblase zerplatzt, nachdem ihr klar geworden war, dass sie in der momentanen Situation niemals eine Handelslizenz erhalten würde. Die Leute erzählten sich, dass die Trinsicer Handelsgesellschaft, die normalerweise mit der Vergabe der Lizenzen betraut war, vom Hauptmann der Garde quasi über Nacht entmachtet wurde. Nun war der Hauptmann selbst für die Vergabe zuständig und dieser war verschwunden.
Cecile hatte die Hoffnung auf eine Handelslizenz fast aufgegeben, aber dann kam Kadir...
„Vielleicht ergänzen sich...unsere Geschäftlichen Interessen“, hatte er gesagt und damit das Spiel begonnen. Ein Spiel das den ganzen Abend andauern sollte.
Sie hatten gefeilscht – um den Preis für die Handelslizenz, für seine Dienste als Wirt und Leibwächter.
Er hatte sich als zäher Verhandlungspartner erwiesen, aber sie hatte nichts anderes erwartet.
Sie war es von den Menschen aus Nujel'm gewohnt, für die es eine regelrechte Passion zu sein schien, stundenlang über die noch letzte Goldmünze zu verhandeln.
Cecile rollte innerlich mit den Augen und tauchte mit dem Kopf in das warme Wasser ein.
„Es ist doch immer dasselbe...aber im Grunde ist es immer alles eine Frage des Preises. Am Ende ist jeder zu kriegen“, dachte sie dabei.
In der Tat waren sie sich schnell einig geworden: Kadir würde ihr, auf welche Weise auch immer, eine Handelslizenz besorgen und später, wenn die Taverne eröffnet hätte, die Rolle des Wirtes übernehmen.
Außerdem hatten sie vereinbart, dass er ihr „gewisse Kerle“ vom Leib halten sollte, wofür er bestens geeignet zu sein schien.
Ja, der Preis schien ihr angemessen. Sie wollte endlich Frieden finden und wer weiß, ob ihre Häscher sie nicht doch noch finden würden.
Sie tauchte wieder aus dem Wasser auf und rieb sich über die Schläfen.
Ihr Blick fiel zur Seite auf den spitzen Dolch mit der gemusterten Klinge, der sanft schimmernd wie ein Schmuckstück auf ihrem Kleid lag, das sie neben der Wanne hatte fallen lassen.
Ob sie ihm wirklich trauen konnte? War er der richtige Mann an ihrer Seite?
Cecile streckte das linke Bein aus dem Wasser und betrachtete das glänzende Öl, das sich über ihre straffe Haut spannte.
„Ob er mir die Geschichte mit der Tänzerin abgenommen hat...?“
Sie atmete tief ein und spürte, wie die ätherischen Öle in der Atemluft ihre Lunge durchdrangen. Trotz der langen Zeit der Untätigkeit auf dem Schiff war sie immer noch sehr gut in Form. Und ganz so sehr gelogen war es nicht – in gewisser Weise war sie eine perfekte Tänzerin und auch Schauspielerin. Sie beherrschte viele Tänze: den Tanz der Intrigen, den Tanz der Verführung und zu guter Letzt den Tanz des Todes.
Sie legte sich entspannt zurück und verfiel weiter in Gedanken.
Eine Frage war noch offen: Cecile wusste nicht recht, wie sie die richtigen Leute für ihr Vorhaben erreichen sollte. Schließlich konnte sie für diese Art Personen, die sie suchte, nicht einfach einen Zettel an das Anschlagbrett hängen.
Sie konnte nur hoffen, dass ihr neuer Partner sich in Trinsic weit besser auskannte als sie selbst.
Cecile dachte an Kadirs Worte: „Ich denke, wenn sich zeigt, dass man bei uns gut verdienen kann, dann kommen die Bewerber von alleine.“
Aber auch dafür würde sich eine Lösung finden, da war sie sich sicher. Für den Moment war alles weitere geklärt, was zuallererst geregelt werden musste und sie freute sich über ihre neue Perspektive.
Sie hatte sich in der Stadt umgehört und in Erfahrung gebracht, wer der momentane Besitzer des heruntergekommen Etablissements war, dass ehemals unter den Namen „Reich der Sinne“ geführt worden war. Das herauszufinden war nicht sonderlich schwer gewesen, aber die Summe, die der Mann für das alte Gebäude haben wollte, war mehr als unverschämt. Der Kerl hatte offenbar vergessen, dass die schillernden Zeiten, als das Reich der Sinne noch in aller Munde gewesen war, lange vorbei waren. Das war natürlich ärgerlich, aber auch kein unüberwindbares Problem.
Cecile verzog das Gesicht zu einem gemeinen Grinsen.
„Taryk du mieses Stück...so findet das Gold, das du mir so viele Jahre vorenthalten hast, doch noch eine gute Verwendung."
Sie stieg aus der Wanne und legte sich ein Handtuch um. Das Wasser war mittlerweile abgekühlt, außerdem fühlte sie sich zu schläfrig, um weiter über die Ereignisse dieses Tages und die vielen zukünftigen Tage, die noch folgen sollten, nachzugrübeln.
Sie trocknete sich ab und schlüpfte in ein langes, weißes Nachthemd.
Leise schritt sie barfuß über den abgelaufenen Dielenboden, bis zu einer Diele, die an einem Ende ein Astloch hatte – gerade groß genug, um einen Finger hineinzuschieben, was Cecile tat.
Sie zog die lose Diele vorsichtig ein Stücken zu sich hoch und darunter kam ein Loch im Boden kam zu Tage. Darin lagen ein kleiner Lederbeutel und einige Schriftstücke, die fein säuberlich gebündelt und zusammengeschnürt waren.
„Alles noch da, wo es hingehört“, flüsterte Cecile zufrieden.
Sie dachte nochmals an Kadir und fragte sich, wie wichtig ihm ihr gemeinsamer Plan sein mochte.
„Womöglich geht es ihm nur um sein eigenes Geschäft...“, dachte sie und legte die Diele wieder an ihren ursprünglichen Platz zurück.
Im selben Moment kam ihr eine Idee...
 
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Ein neuer Name


„So, hier ist es“, sagte der Schmied, pustete die letzten Arbeitsspuren von dem eisernen Schild und legte es vor sich auf den Tisch. Stolz betrachtete er sein Werk.
Cecile ließ ihre Fingerspitzen über das kalte Eisen gleiten und betrachtete das filigran gestaltete Motiv - eine barbusige Meerjungfrau, die mit einem Arm aufgestützt einladend lächelnd auf einem Felsen saß . Darunter befand sich ein Schriftzug in goldenen Lettern.
„Ihr habt euch wirklich selbst übertroffen“, erwiderte sie zufrieden und blickte den Schmied mit funkelnden Augen an.
„Ach das war doch gar nichts“, antwortete der Schmied verlegen und wischte sich die Hände in einem fleckigen Tuch ab.
„Wohin soll es denn geliefert werden und...soll ich es auch anbringen?“
„Ja, ich bitte darum. Ihr kennt das alte „Reich der Sinne“?“
Der Schmied wurde puterrot im Gesicht und schaute die junge Frau noch verlegender an als zuvor.
„Ihr seid die neue Besitzerin des Re...?“
„So ist es. Aber...“ Cecile blickte den Schmied an und zupfte schmunzelnd an der kleinen Schleife, die den Ausschnitt ihres hellblauen Kleides zusammenhielt.
„Es wird wohl etwas anders werden, als ihr es in Erinnerung habt.“
Der Schmied wedelte abwehrend mit beiden Händen.
„Wo denkt ihr hin, ich war niemals im Reich der Sinne. Ich kenne den Laden nur vom Hörensagen!“
Cecile zog einen Beutel mit Münzen hervor und schob ihm den Schmied über den Tisch zu.
„Ist schon in Ordnung guter Mann, ihr seid mir gegenüber keine Rechenschaft schuldig,“ sagte Cecile und bekräftigte ihre Aussage mir einem Augenzwinkern.
„Ich erwarte euch heute Nachmittag, wenn es eure Zeit zulässt. Aber kommt bitte nicht zu früh. Ich erwarte heute außer euch noch den Kämmerjäger.“
„Oh...haben sich in der Zwischenzeit einige Tierchen in dem alten Schuppen eingenistet?“
Der Schmied räusperte sich und verzog den Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen.
Cecile ersparte sich die Antwort und seufzte stattdessen leise.
Sie blickte nochmals auf das Schild mit der Meerjungfrau.
„Wirklich sehr hübsch“, flüsterte sie und verließ die Schmiede.

Zur frühen Abendstunde erschien endlich der Schmied mit dem Schild. Der Kammerjäger war schon vor Stunden gegangen und Cecile saß ungeduldig auf einem knarzendem Stuhl unter dem alten, schief hinab hängenden Schild mit der Aufschrift „Reich der Sinne“.
„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie lächelnd den Schmied.
„Aye...verzeiht, aber wenn ich etwas wirklich hasse, dann sind es Ratten“, grinste der Schmied schief und zog das neue Schild unter seinem Arm hervor.
Außerdem ließ er einen schwer aussehenden Sack von seiner Schulter zu Boden gleiten.
„Hm...habt ihr eine Leiter?“
Cecile nickte. „Ja, folgt mir bitte.“
Sie führte den Schmied in das verlassene Gebäude durch den mit Spinnenweben verhangenen Eingangsbreich und bog ab zu der hölzernen Tür, die hinab zu den Stallungen führte.
Der Schmied folgte ihr nur zögernd während er misstrauisch in jede Ecke schielte, als befürchtete er, dass ihm im nächsten Moment eine Ratte entgegen springen würde.
„Hier ist eine Leiter.“ Cecile deutete in eine Ecke des Stalls und der Schmied machte sich ans Werk.

Wenig später hing das neue Schild endlich an seinem vorgesehenen Platz. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich in den goldenen Lettern wider, die den Namen des Hauses verrieten: „Die kleine Meerjungfrau“.
Cecile stand glücklich lächelnd neben dem Schmied, der sein Werkzeug wieder sorgfältig verstaute.
„Milady...“, begann er höflich. „Ich wünsche euch alles Gute. Möge das Gold großzügig in eure Kasse fließen.“
„Ich danke euch - vor allem für eure hervorragende Arbeit.“
Der Schmied verabschiedete sich mit einer kurzen Verbeugung und ließ Cecile und „Die kleine Meerjungfrau“ hinter sich zurück.
 
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Sünden​

Es brauchte seine Zeit, bis sich Ceciles Augen an das spärliche Licht, den die kleine Lampe in ihrer Hand verbreitete, gewöhnt hatte. Ihre Fingerspitzen glitten über die glatte Kellerwand. Sie nickte anerkennend. Bronk hatte wirklich hervorragende Arbeit geleistet. Sie drehte die Laterne seitwärts und versuchte den Bereich auszuleuchten, den Bronk auf ihr Geheiß hin zusätzlich ausgehoben hatte und der nicht Gegenstand des ursprünglichen Vertrages gewesen war.
Sie musste einige Schritte gehen, weil das Licht nicht bis in den erweiterten Raum reichte. Flach atmend betrachtete sie den Boden zu ihren Füßen. Sie fühlte sich angespannt. Waren das Blutflecken auf dem Boden? Sie wischte mit ihrem Schuh über den dunklen Kellerboden. Nein, es war nur eine feuchte Stelle gewesen.

Schlurfende Schritte, leises, schweres Atmen...

Cecile riss die Laterne herum.
Was war das? Sie kniff die Augen zusammen und blickte in Richtung Treppe.
"Kadir...seid ihr das?" Unsicher schwenkte sie die Lampe in der Luft und versuchte, etwas zu erkennen.
Jemand kam langsam auf sie zu, aber sie konnte beim besten Willen nicht erkennen, wer es war.
Langsam, mit wankenden Schritten kam die Gestalt auf sie zu.
Cecile gefiel die Situation überhaupt nicht. Sie hielt mit gestrecktem Arm die Lampe vor sich.
Plötzlich erkannte sie das fahle, blasse Gesicht, das sie mit leeren, leblosen Augen anstarrte: es war Bronk.
Ceciles Finger verkrampften sich um den Henkel ihrer Lampe und ihre Kehle schnürte sich zu. Panisch rang sie nach Atem. "Bronk, aber...aber...das ist unmöglich...“, stammelte sie.
Bronk reagierte nicht. Stattdessen kam er näher an sie heran, streckte seine schmutzigen Finger nach ihr aus.
Sein Gesicht verzog sich zu einer hässlichen Fratze.
Auf seiner Stirn bildete sich langsam ein dunkler, blutroter Fleck. Der Fleck wurde ein Loch. Blut quoll aus dem Loch hervor.
Cecile stand regungslos da. Sie wollte davonrennen, aber sie konnte nicht. Ihr Herz raste, nackte Angst machte sich ihr breit. Bronks blutleere Lippen öffneten sich langsam und formten mit lauter, fast dröhnder Stimme die Worte, die sich mit stechendem Schmerz ins Ceciles Kopf bohrten.
"Ich fordere meinen Lohn - ihr zahlt den vollen Preis!"
Endlich schaffte Cecile es mit aller Kraft einen Schritt zurückzugehen...jedenfalls dachte sie das. Stattdessen ging sie noch einen Schritt auf Bronk zu.
Sie wollte schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen.
Bronk grinste sie gewinnend an, führte seine Hand an ihren nackten Hals und öffnete seinen Mund.
Große weiße Maden krochen aus den tiefen seines untoten Schlundes zwischen seinen Lippen hervor und fielen auf den Boden.
Cecile spürte wie sich Bronks kräftige Hand um ihre Kehle schloss.

Sie schrie...

Dem Schrei folgte ein zweiter, ebenso lauter Schmerzensschrei, nachdem Ceciles Hinterkopf auf den harten Stein hinter ihr traf.
Tränen schossen in ihre Augen.
Sie blinzelte zwischen salzigen Tränen in das helle Licht, das sie umgab und fasste sich an den Hinterkopf.
Nur langsam wich der Schmerz, der sie abrupt aus diesem fürchterlichen Alptraum gerissen hatte.
Cecile wischte sich die Tränen aus den Augen und schaute sich mit zitternden Lippen um.
Ihr war durch und durch kalt. Es verstrich einige Zeit bis sie verstand, wo sie sich befand.
Sie saß mit angezogenen Beinen an die Wand gelehnt auf den untersten Treppenstufen, die in das oberste Stockwerk der kleinen Meerjungfrau führten.
Aber was machte sie hier? Sie versuchte sich die Erinnerungen an den vorherigen Abend ins Gedächtnis zu rufen.
Schwach konnte sie sich daran erinnern, dass sie von dem großen Tisch im Schankraum aufgestanden war, aber was danach geschehen war, wusste sie nicht mehr.
Cecile fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen.
Sie hatte Durst. Langsam raffte sie sich auf und taumelte benommen in die Küche.
Es war scheinbar noch früh am Morgen. Weder Mavis noch Liam waren in der Küche zu sehen und das einzige Geräusch, das sie vernahm, war ihr eigener, immer noch unruhiger Atem.
Cecile füllte ein Glas mit Wasser und trank es nachdenklich aus.
Dieser Traum...sie kannte so etwas schon. Es würde wieder eine ganze Zeit dauern, diese Bilder zu vergessen.
Aber welche Bilder - die ihrer eigenen Tat oder die Bilder aus diesem abscheulichen Traum?
Cecile schritt mit schweren Schritten in Richtung Stall, entzündete eine Lampe und stieg zögernd die Treppe in den Keller hinab.
"Ruhig Cecile...es war alles nur ein Traum", flüsterte sie sich selbst Mut machend zu.
Wie in ihrem Traum ließ sie die Laterne von einer Wand zur anderen wandern.
Sie ging einige Schritte in den Raum und leuchtete den Boden ab.
"Sehr gut", dachte sie erleichtert. "Anscheinend hat Kadir Wort gehalten und sich des Problems angenommen."
Still betrachtete sie noch einen Moment die Stelle am Boden, an der am Abend zuvor die Leiche Bronks gelegen hatte.
Cecile seufzte leise und machte kehrt.
Wie viel konnte ein Mensch sündigen, ohne dass die Summe seiner schlechten Taten irgendwann auf ihn zurückfallen würde?
Sie wusste es nicht...
 
Misstrauen​

Cecile stand mit den Unterarmen auf das Geländer zum Eingang der kleinen Meejungfrau gestützt und dachte nach. Ihr rotes Haar streifte sanft ihre angespannten Gesichtszüge im aufkommenden Wind, währenddessen sich am Horizont dunkle Gewitterwolken abzeichneten, die sich langsam in Richtung des Hafens von Trinsic aufmachten.
Die frische Brise hatte etwas Reinigendes an sich, wie Cecile fand. Sie nahm den süßen penetranten Geruch nach Tot und Verwesung mit sich, der seit Tagen in die Gassen der Stadt drang. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein.

Sie schlenderte in Die kleine Meerjungfrau und stieg die Treppenstufen hinauf in das oberste Stockwerk.
Leise ließ sie die Tür ihres Zimmers ins Schloss fallen. Sie streifte die Träger ihres fliederfarbenen Kleides im Gehen ab und ließ es, während sie zu ihrem Waschtisch schritt, zu Boden gleiten.
Sie wusch sich das Gesicht, trocknete sich ab und betrachtete kritisch ihr Antlitz im Spiegel.
"Würdest du ihr wirklich ein Haar krümmen?"
Diese Worte beschäftigten sie seit Tagen. Kadir hatte ihr die Frage gestellt gehabt und zum damaligen Zeitpunkt hatte Cecile sie noch verneint.
Ihre Gedanken kreisten um die kleine Mavis.
Das Mädchen hatte sie geradeheraus das gefragt, was letztlich als logische Konsequenz aus dem folgen musste, was Cecile ihr unmissverständlich klarzumachen versucht hatte...was passieren würde, wenn sie Ceciles Geheimnis verraten würde.
"Willst du mich nun auch töten?"
Sie war sich mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob Mavis sie bewusst verraten würde, wenn es jemals dazu kommen würde. Das Mädchen hatte sich schon einmal Liam gegenüber fast verplappert, der bisher von Bronks Tot nichts wusste.
Cecile sträubte sich innerlich, die Fragen von Kadir und Mavis zu beantworten.
Die Zeit würde zeigen, was mit dem kleinen Mädchen werden würde...

Ceciles rechte Hand glitt über ihren Oberschenkel und traf auf den dünnen, weichen Riemen, der eine schmale lederne Scheide an ihre Haut drückte. Ihre Finger tasteten nach dem schmalen Dolch und zogen ihn hervor.
Sie betrachtete die fein marmorierte, silbergrau schimmernde Klinge in ihrer Handfläche, strich mit der anderen Hand über den kunstvoll gefertigten Stahl.
Ein kühles Lächeln umspielte ihre Lippen.
Sie hatte Mavis nahegelegt, es ihr gleich zu tun, sich ebenfalls einen Dolch zu besorgen und ihn nah bei sich zu tragen - und damit meinte sie nicht an ihrem Herzen.
Das hübsche püppchenhafte Gesicht würde mit der Zeit Begehrlichkeiten bei einigen Kunden wecken. Ein Mädchen von höchstens vierzehn Jahren als Bedienung in einer Gaststätte in einem Hafen...
Cecile atmete ein, hielt einen Atemzug inne und steckte den Dolch wieder weg.
An dem Tag, als Mavis die Leiche Bronks gefunden hatte, war Cecile klargeworden, dass es für sie und das Mädchen besser gewesen wäre, wenn sie es nicht von der Straße geholt hätte.
Mavis entwickelte sich mit ihrem offensichtlichen Faible für die Garde zu einem großen Problem, das am Ende zu dieser unvermeidlichen Frage seitens Mavis' geführt hatte.

Und dann diese Gardisten...
Cecile ging zum Fenster und betrachtete die herannahenden Wolken.
Seitdem Bronk verschwunden war und sein Chef eine Anzeige bei der Garde gemacht hatte, schwirrten die Gardisten fast täglich um ihr Haus herum. Wie die Fliegen, die sich an Bronks Leiche labten, nachdem dieser sein Leben in dem Keller, den er selbst ausgehoben hatte, ausgehaucht hatte.
Cecile dachte über Mavis' Worte nach, darüber, dass sie angedeutet hatte, ihr gemeinsames Geheimnis zu verraten, wenn sie mal "in der Garde sein würde" und spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, als sich ihr wieder diese eine Frage aufdrängte.

Noch halb in Gedanken vertieft, trat Cecile zwei Schritte von ihrem Fenster zurück.
Unten lief der Fischer vorbei, dem sie seinen letzten Fisch abgerungen hatte, damit es in der Speisekammer überhaupt etwas gab außer Ratten, die Liam den Gästen als zartes Rindfleisch verkaufen wollte.
Sie fuhr nachdenklich mit ihrem Zeigefinger über die feine, dünne Seide, die spärlich ihre Brust bedeckte.
Sie dachte angewidert an den Geruch nach Fisch, der die Luft um sie erfüllt hatte, als sie den ausgehandelten Preis für die Waren des Fischers in den Armen des jungen Mannes liegend bezahlt hatte.
Noch Stunden später hatte sie das Gefühl gehabt, dass der Fischgeruch an ihr haftete.

"Manchmal frage ich mich, ob ich in der richtigen Stadt gelandet bin."
So oder so ähnlich hatte es Liam formuliert, als sich Cecile zuletzt mit ihrem Koch unterhalten hatte.
In diesen Tagen teilte sie seine Worte.
Wie sollte es weitergehen mit dem Wirtshaus, wenn die Leute in Trinsic täglich um ihr Leben bangen mussten?
Es wurde für Reisende zunehmend schwerer, in die Stadt zu gelangen, außerdem gab es kaum noch Quellen, um an frische Lebensmitteln zu kommen. Die Bauern waren vor den Piraten in die Stadt geflohen und die meisten Jäger und Fischer weigerten sich beharrlich, die Stadt zu verlassen, um ihrer Arbeit nachzugehen und leider ließen sich die wenigsten so leicht vom Gegenteil überzeugen, wie der junge Fischer.
Alle horteten stattdessen ihr Hab und Gut und hofften darauf, dass die Garde das Problem endlich lösen würde.

Cecile bewegte sich auf ihren Schreibtisch zu und ließ ihren Blick auf dem Wappen ruhen, das das Dokument auf der abgenutzten Tischplatte zierte.
Unter dem Wappen stand in geschwungenen Lettern der Name Boisseau.
Ceciles Augen wurden feucht.
"Die falsche Stadt, die falsche Zeit...es hätte alles anders sein können“, sagte sie leise zu sich und strich liebevoll mit der Hand über das Wappen.
 
Abschied​

Der Himmel war klar über der goldenen Stadt. Sterne funkelten am Firmament und erfüllten die Nacht mit sanftem Glitzern.
Cecile atmete langsam aus und verfolgte ihren Atem, wie er in der Luft kondensierte und wabernd davon schwebte.
Sie fröstelte.
Der Mantel, den sie sich übergeworfen hatte, ließ der Kälte immer noch genug Raum, um sie in der kalten Nachtluft erzittern zu lassen.
Vor dem Eingang der kleinen Meerjungfrau stehend, beobachtete Cecile konzentriert die Umgebung.
Sie fühlte sich unwohl.
In den letzten Wochen hatte sich ihre Situation mehr und mehr zum Schlechten gewandelt. Kadir war spurlos verschwunden, ebenso Liam. Sie war sich unschlüssig, was mit Kadir passiert sein mochte. Hatte er sich womöglich mit den Piraten aus dem Staub gemacht? Er hatte ihr gegenüber erwähnt, dass er die Piraten kennen würde, eben genau diese, die Trinsic und seine Bewohner seit langem in Atem gehalten hatten.
Oder vielleicht kannte er sie nicht nur, sondern steckte sogar mit ihnen unter einer Decke?
Und wenn er in diesem Fall nur geplant hatte, Die kleine Meerjungfrau als günstigen Standort zu nutzen, um die Stadt auszuspionieren?
Vielleicht tat sie ihm auch völlig unrecht. Denkbar war auch, dass sich die Piraten eines Mitwissers entledigen wollten und Kadir längst von Krabben zerfressen auf dem Meeresboden lag.
Andererseits konnte es eine viel einfachere Lösung für sein Verschwinden geben – Die kleine Meerjungfrau hatte bisher keinerlei Gewinn abgeworfen und darum war es bei ihrer Geschäftsbeziehung schließlich in erster Linie gegangen – um den schnellen Profit.
Aber warum hatte er ihr nichts gesagt und war einfach verschwunden?
Sie kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
Und was war mit Liam? Hatte er es letztendlich doch getan...? Er hatte mehr als einmal von einem Schlussstrich gesprochen...
Cecile senkte den Kopf.
Sie mochte Liam und hatte das Gefühl, dass er ein feiner Kerl war. Und kochen konnte er erst...
Aber beide, Liam und Kadir, waren fort...
Und was war schon ein Wirtshaus ohne Koch und Wirt?
Kadir...er hätte nicht nur ihr Wirt, sondern, trotz des Misstrauens, das sie ihm gegenüber manchmal hegte, ihr Beschützer sein sollen.
Die Gründe dafür lagen auf der Hand und diese waren es auch, die ihr am meisten auf die Stimmung schlugen.

Seit einigen Tagen hatte sie dieses merkwürdige Gefühl...
Angespannt blickte sich Cecile um, ließ ihren Blick in jeden sichtbaren Winkel der Straße wandern.
Dabei wusste sie eigentlich genau, dass sie niemals über die Straße kommen würden.
Sie würden leise und verstohlen aus dem Hinterhalt agieren, überraschend und unerwartet zuschlagen.
Am Ende würde jemand wie Kadir wahrscheinlich sowieso nutzlos sein.
Was würde er schon gegen sie ausrichten können?

Cecile drehte sich auf der Stelle um und stieß die Tür zum Gasthaus auf.
Sie erstarrte in der Bewegung, als sie die Tür etwa zur Hälfte aufgedrückt hatte.
Da war es wieder dieses Gefühl. Das Gefühl beobachtet zu werden, dass ein aufmerksames paar Augen sie verstohlen aus dem Hinterhalt durchbohren würden.
Kalter Schweiß lief an ihrer Wirbelsäule entlang.
Hastig betrat sie die kleine Meerjungfrau und verriegelte die Tür.
Drinnen sank ihr schlanker Körper an dem kühlen Holz der Eingangstür zum Boden hinab.
Sie kauerte sich wie ein verletztes Tier am Boden zusammen und spürte, wie ihr Lebensmut aus ihr wich.
Eine ganze Weile lag sie einfach nur dort. Leer vor sich hin starrend, müde und kraftlos.
Sie wischte sich teilnahmslos über den Hals. Eine Spinne hatte sich von der Decke abgeseilt und kitzelte sie mit ihren feinen Beinchen.
Als Ceciles Finger über ihre Haut fuhren, berührten sie das weiche, samtene Halsband, das sie seit einigen Tagen als ständigen Begleiter um ihren Hals trug.
Ihre Fingerspitzen ertasteten die silberne Schlange, die sich an der Vorderseite des Bandes befand.
Zorn stieg in ihr hoch.
Nein – so sollte es nicht enden.
Sie raffte sich auf und schritt mit eiserner Miene zur Treppe, die in das Obergeschoss führte.
In ihrem Zimmer öffnete sie den schweren Reisekoffer, in dem sich seit dem Tag ihrer Ankunft in Trinsic einige Dinge befanden, die sie bisher nicht wieder angerührt hatte.
Cecile holte die Gegenstände hervor und blickte mit einem kalten Lächeln zum Fenster.
Sie würde die nächsten Nächte draußen verbringen...

Wenig später erlosch das letzte Licht in der kleinen Meerjungfrau.
Als draußen die Glocken zur Mitternachtsstunde schlugen, war es soweit...
Aus dem Nachthimmel sank ein kleine Eule nieder, glitt leise durch die Luft, bis sie auf dem Fenstersims zu Ceciles Schlafzimmerfenster sanft landete.
Das zierliche Tier blickte aufmerksam zu allen Seiten und wurde dann von einer dunklen Wolke eingehüllt.
Als sich der Dunst verzogen hatte, hockte auf dem schmalen Fenstersims eine nackte Gestalt, die ihren mit dunklen Farben getarnten, nackten Körper an die Scheibe des Fensters presste.
Mit einer knappen Handbewegung holte die mysteriöse Gestalt etwas zwischen ihren Lippen hervor und machte sich an dem Fenster zu schaffen.
Plötzlich durchschnitt ein leises Pfeifen vom Boden aus die nächtliche Stille.
Es war gerade laut genug, damit die dunkle Gestalt im Fenster gestört wurde und instinktiv ihren wendigen Körper zur Seite riss.
Aber es war nicht schnell genug...
Der Pfeil, der eigentlich auf den Brustbereich des nächtlichen Besuchers gerichtet war, verfehlte zwar sein eigentliches Ziel, durchbohrte aber stattdessen seinen rechten Unterarm.
Die schmale Gestalt geriet ins Taumeln und stürzte zu Boden.
Noch im Fallen verwandelte sie sich wieder in ihre vorherige Gestalt zurück.
Die kleine Eule trudelte mit dem für sie viel zu schweren Pfeil im Flügel zu Boden und überschlug sich unten angekommen unsanft im Gras.
Aus der Dunkelheit zischte ein weiterer Pfeil und durchbohrte den Hals der unbekannten Person, die gerade im Begriff war, wieder eine neue Form anzunehmen. Der Zauber wurde durchbrochen...

Eine zweite Person kam aus dem Schatten hervor.
Sie näherte sich mit leisen, aber entschlossenen Schritten ihrem Opfer und beugte sich nieder, um ihr Werk zu betrachten.
Zu ihren Füßen lag jetzt eine junge Frau, die mit unnatürlich verdrehten Augen und offenem Mund nach Luft rang.
„B...Bitte...“, flehte sie röchelnd.
Sie musste ihren Satz nicht beenden. Cecile wusste, was sie sagen wollte.
Ohne zu zögern zog sie ihren Dolch und beendete mit entschlossener Hand das Leid der sterbenden Frau.
Dann zerrte sie schnell den leblosen Körper in die Dunkelheit.
Sie kannte den Namen der jungen Frau.
Varielle...sie durfte kaum älter als sie selbst gewesen sein.
Taryk hatte sie vor einiger Zeit miteinander bekannt gemacht.
Aber Varielle war allenfalls eine geschickte Diebin, keine Mörderin.
Was also hatte sie hier verloren...?

Im Morgengrauen entledigte sich Cecile ihrer schwarzen Kleidung und machte sich hastig daran, ihre wenigen Habseligkeiten zusammenzupacken.
Sie dachte dabei nochmal über ihre nächtliche Besucherin nach.
Hatte man Varielle womöglich gar nicht auf sie angesetzt, sondern nur geschickt, um Taryks Schätze wieder zurück zu holen?
Es wäre völlig unsinnig gewesen, erst die Sachen zu stehlen und sie selbst erst später umzubringen, nachdem sie vermutlich längst geflohen wäre.
Cecile verstaute den eleganten Bogen in ihrem Reisekoffer und grübelte weiter über die seltsame Tat nach.
Vielleicht hätte sie Varielle gewähren lassen sollen. Vielleicht wäre damit der Spuk am Ende gewesen.
So oder so waren ihre Häscher auf ihre Spur gekommen und sie war hier nicht mehr sicher.
„Wie dumm war ich nur, dass ich geglaubt habe, sie würden mich nicht finden...“
Cecile presste ihre Lippen zusammen und schloss den Reisekoffer.
„Die Zeit war noch lange nicht reif dafür...ich hätte...ich hätte...ach Mist! Hätte, hätte...ich hätte vieles anders machen müssen. Es war eben doch die falsche Stadt und die falsche Zeit.“
Aber da gab es noch etwas, das sie am Gehen hinderte...oder besser gesagt jemand.
Cecile lief zu ihrem großen Schreibtisch, griff eilig nach der Schreibfeder und tunkte sie in das Tintenfass.
Sie kritzelte hastig einige Zeilen auf ein Papier und lief dann die Treppe nach unten ins Erdgeschoss.
Das Schreiben heftete sie an Mavis' Zimmertür.

Kurz darauf blickte sie ein allerletztes Mal hinauf zu dem Schild mit der barbusigen kleinen Meerjungfrau.
Cecile wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Vielleicht an einem besseren Ort, zu einer besseren Zeit...“, murmelte sie leise und zog ihren Mantel fester um die Schultern.
 
Der Fremde​

Mittlerweile war eine Stunde vergangen, in der Cecile die Zeit damit verbracht hatte, das hintere Tor von Trinsic anzustarren.
Tami tänzelte unruhig von einem Huf auf den anderen. Die weiße Stute spürte Ceciles Unruhe.
Cecile dachte darüber nach, ob es besser gewesen wäre, nicht so früh an dem Treffpunkt aufzutauchen. Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe und versuchte im schwachen Licht etwas zu erkennen. War da Mavis? Ein dunkler Schatten näherte sich langsam vom Stadttor aus auf sie zu.
Sie musste es sein. Die sechste Stunde des Abends war angebrochen und wer sollte sonst um diese Zeit ausgerechnet in Richtung Dschungel unterwegs sein.
Cecile wischte sich ein langes Haar aus der Stirn und spürte dabei unter ihren Finger den Schweiß, der auf ihrer Haut feine Perlen bildete.
Sie war aufgewühlt und war sich nicht mehr sicher, ob sie das Richtige tat. In ihr rangen ihr Gewissen und der Wunsch danach, nicht mehr allein zu sein, um die Vorherrschaft.
Es blieb nicht mehr viel Zeit für eine Entscheidung, gleich würde Mavis sie erreicht haben.
Plötzlich riss Cecile Tami an den Zügeln herum und jagte die weiße Stute in die Dunkelheit.

Sie ritt so lange, bis sie jegliche Orientierung verloren hatte. Erschöpft ließ sie sich von Tamis Rücken gleiten und hockte sich auf den Boden neben sie.
Tränen liefen ihr über die Wangen.
"Es war die richtige Entscheidung...ich bin ein Monster...was für eine Zukunft kann ich ihr schon bieten...ein Leben in Angst und Flucht?"
Sie redete sich diese und ähnliche Dinge ein, während die Tränen weiter ihren Umhang benetzten.
Nun war sie wieder allein...

Es dauerte ungefähr eine Stunde, bis Cecile sich einigermaßen gefangen hatte.
Ausgelaugt und müde sah sie sich um und versuchte, soweit es ihr die Dunkelheit gestattete, zu erkennen, wo sie sich befand.
Um sie herum befanden sich riesige Bäume, deren Kronen leise im Abendwind sanft hin und her geschaukelt wurden.
Sie befand sich auf einer kleinen Lichtung, so viel konnte sie im wenigen Licht erkennen.

Cecile tastete nach dem Riemen ihrer Gepäcktasche und ließ ihr verbliebenes Hab und Gut auf den Boden fallen.
"Es wir immer weniger", dachte sie bei sich und lächelte kühl.
Ihre Ausrüstung war eher praktisch und weniger für den angenehmen Komfort auf ihrer Reise ausgelegt.
Sie zog eine Decke von Tamis Rücken und warf sie sich über die Schultern. Dann war da noch ein längliches Bündel, dass sie vorsichtig dem Pferd abnahm und es neben sich auf den Boden legte.
Cecile setzte sich auf die kalte Erde und öffnete das dunkle Bündel, das in schwarzes Leinen gewickelt war.
Sie musste die Gegenstände nicht sehen. Sie hatte lange genug gelernt, sie auch in absoluter Finsternis zu benutzen, auch wenn man sich fragen durfte, was sie ohne Sicht mit einem Bogen anfangen sollte.
Denn genau das befand sich in dem Bündel - ihr langer Bogen, die kleine zierliche Armbrust neben ein paar Pfeilen und Bolzen.
Sie zog die beiden Waffen zu sich heran und kauerte sich in die Wärme spendende Decke.
So wollte sie auf das erste Tageslicht warten, um sich dann weiter auf den Weg zu machen.

Sie nickte immer wieder kurz ein und wäre fast eingeschlafen, als sie ein leises Knacken aufschreckte.

Eine blitzschnelle Handbewegung zur Seite, ein Pfeil fand seinen Weg auf die Sehne. Ruhe bewahren, durchatmen...

Cecile starrte auf die Stelle aus der sie meinte, das Geräusch gehört zu haben und richtete den Bogen auf das imaginäre Ziel.
Sie wusste nur zu gut, dass sie hier in der Wildnis ihren Feinden ausgeliefert war. Sie war eine Meisterin der Verstohlenheit, wenn es darum ging, sich unsichtbar an der Fassade eines Hauses entlang zu hangeln oder den Schatten einer Laterne zu nutzen, um für die Augen anderer zu verschwinden.
Aber hier zwischen den Bäumen und Sträuchern war das etwas grundlegend anderes. Sie war diese Umgebung nicht gewohnt. Die Geräusche, die Tiere, die Art, wie die Gegend roch. All das erfüllte sie mit Unsicherheit.
Langsam senkte sie den Bogen wieder.
Wahrscheinlich war es doch ein wildes Tier gewesen...

Plötzlich knackte wieder ein Zweig.
Nervös nestelte Cecile an ihrem Zeigefinger, spürte das von Magie erfüllte Metall.
Es gab für sie nur eine Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie musste sich das Ganze aus anderen Augen ansehen.
Gerade wollte sie den Ring an ihrem Zeigefinger drehen, als eine Stimme aus der Dunkelheit zu ihr sprach.
"Fürchtet euch nicht, ich werde euch nichts tun. Ihr seht so aus, als hättet ihr euch verirrt. Vielleicht kann ich euch helfen."
Cecile ließ von dem Ring ab und griff hastig zu ihrem Bogen.
Bevor sie den Pfeil wieder auf die Sehne legen konnte, war der Fremde schon aus dem Unterholz getreten und kam auf sie zu.
"Einen Moment...", sagte der Fremde mit beruhigender Stimme.
Cecile sah, wie er einen leuchtenden Gegenstand unter seiner Jacke hervorholte und das Licht seinem Gesicht näherte.
Sie betrachtete misstrauisch die markanten Gesichtszüge des jungen Mannes, der ihr freundlich entgegen lächelte.
Nur zögernd nahm sie den Pfeil von der Sehne.
 
Das Geschenk​

„Was wohl mit mir passiert wäre, wenn ich ihm damals den Pfeil in die Brust gejagt hätte?"
Ceciles Mundwinkel umspielte ein zögerndes Lächeln als sie sich selbst diese Frage stellte, während an ihrer Seite Valenduil mit leisen Schritten über den weichen Waldboden schritt.
Ihr kam dieser Moment ewig weit weg vor und sie war sehr froh darüber, dass sie damals gezögert hatte.
Cecile hatte mittlerweile völlig das Zeitgefühl verloren. Die Zeit, die sie gemeinsam mit dem jungen Elfen verbracht hatte, war wie ein wohltuender Balsam für ihre Seele gewesen.
Die völlige Abgeschiedenheit von jeglicher Zivilisation, das allmähliche Vergessen der Gedanken an ihre Verfolger, das bescheidene Leben inmitten der Natur...Cecile fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben frei.

„Ich mag es, wenn du so geheimnisvoll lächelst", flüsterte Valenduil. „Es verleiht deinem Gesicht etwas sehr..." Er rang mit den Worten. „Schönes."
„Danke.", erwiderte Cecile sanft mit ebenso leiser Stimme. Bei einem anderen Mann hätte Cecile schon ihre Hand gedanklich zu dem Dolch an ihrem Oberschenkel wandern lassen, außer der Süßholzraspler hätte ihr mindestens den halben Arbeitslohns eines Monats vor die Füße gelegt. Aber Valenduil war anders. Sie vertraute ihm voll und ganz. Außerdem war sie sich sicher, dass sein Herz einer anderen Frau gehörte. Sie wusste nicht wem genau, Valenduil war was solche Themen anbelangt mindestens so verschwiegen wie sie selbst, aber er sie hatte so ein bestimmtes Gefühl und er hatte verschiedene Andeutungen in diese Richtung gemacht.
Der junge Elf erfreute sich einfach an den schönen Dingen des Lebens und diesem Moment war es Ceciles Lächeln auf ihren sanft geschwungenen Lippen.
Valenduil war kein Freund großer Worte. Vielleicht war es gerade das, was Cecile so sehr an ihm schätzte. Er sprach wenig. Und wenn er es doch tat, dann nur, wenn es wirklich angebracht erschien.
Seine moosgrünen Augen wandten sich von Ceciles Gesicht ab und erforschten die braun grüne Ebene, der sie sich vorsichtig näherten.
Der Winter hatte sich in den letzten Wochen von seiner ungemütlichen Seite gezeigt.
Cecile konnte die Abende nicht mehr zählen, an denen sie in ihrem selbst errichteten Unterschlupf in Felle gekauert das feuchte, klamme Lager geteilt hatten.
Aber an diesem Morgen lag ein feiner Schleier über dem schlafenden Gras der Ebene, der von silbernen Sonnenstrahlen durchzogen wurde.
Cecile hätte die klare Luft an diesem Morgen in vollen Zügen genossen, wäre weiter vor ihnen nicht der eigentliche Grund gewesen, für den sie diesen Ort aufgesucht hatten.
Sie wusste genau, dass die Rehe vor ihnen bei dem kleinsten Laut Gefahr wittern würden.
Valenduil spannte seinen Bogen und deutete mit einem kurzen Nicken an, dass Cecile warten sollte.
Sie gehorchte und wartete schweigend auf ihn.

„Heute verjagst du aber nicht wieder unseren Braten!", hatte Valenduil gewitzelt, als sie zu der Ebene aufgebrochen waren.
Eigentlich hatte er sich sowieso nur wegen ihr dazu entschieden, auf die Jagt zu gehen und ein Reh zu erlegen.
Es entsprach nicht der Natur der Elfen, Tiere zur Nahrungsbeschaffung zu erlegen. Zwar war Valenduil nicht wie andere Elfen, aber es war stets sein Bestreben, dem „wahren" Weg der Elfen zu folgen - so gut es ihm eben gelang.
Er hatte Cecile einmal erzählt, dass er von Menschen aufgezogen worden war und daher von Kindesbeinen an gelernt hat, wie ein Mensch zu leben.
Irgendwann, nachdem er beschlossen hatte, mehr über sein eigentliches Volk in Ishennar zu erfahren, traf er dort auf einen alten, weisen Elfen, der von da an sein Mentor werden sollte.
„Wenn mich heute mein Mentor sehen würde...", hatte Valenduil auf dem Weg zu den Rehen gemurmelt. „...würde er es mir ziemlich übel nehmen. Aber heute ist schließlich ein Festtag...", hatte er mit sehr leiser Stimme nachgefügt.
Cecile hatte sich über diese Sache mit dem Festtag sehr gewundert, aber Valeduil hatte es ihr nicht weiter erklären wollen und war mit ihr losgezogen.

Sie beobachtete den Elf, wie er mit lautlosen Schritten, geschmeidig wie eine Raubkatze, auf das Wild zu pirschte.

Innerlich schüttelte es sie vor Lachen, weil sie unter normalen Umständen die Tiere auf der Ebene nicht verjagt hätte. Aber sie spielte die Rolle der tollpatschigen Jägerin nun schon seit über einem Jahr.
In der Zwischenzeit hatte Cecile sehr wohl gelernt, sich in der für sie neuen Umgebung zurechtzufinden. Zwar mangelte es ihr immer noch an der Fähigkeit, sich vollkommen lautlos durch den Wald zu bewegen - in Nujel'm gab es eben keine Wälder, lediglich ein paar Palmen -, aber wenn sie es einmal in die Nähe eines Rehs geschafft hätte, wäre das Treffen ihres Zieles weniger das Problem gewesen.
Aber es passte eben nicht so ganz in das Bild von der armen, wehrlosen Frau, die vor ihrem gewalttätigen Mann geflohen war.

Cecile nickte anerkennend, als Valenduils Pfeil sein Ziel traf.
Nach einiger Zeit kam er mit einem kleinen Reh über der Schulter zu ihr zurück.
„Mögen es mir die Ahnen verzeihen." sagte er lächelnd.
„Aber das Kleine wäre ohnehin in den nächsten Tagen einem Wolf oder einem anderen Räuber zum Opfer gefallen."
Cecile blickte ihn fragend an.
„Ich habe diese Herde die letzten Tage beobachtet. Dieses Tier war schwach und unterernährt. ich habe es nur von seinem Leid erlöst."
Cecile nickte stumm und folgte dem Elf lächelnd, während Valenduil mit dem Reh in Richtung ihres Unterschlupfs marschierte.

Die Holzscheite knisterten und knackten gemütlich und der Duft in der Luft war einfach zu verführerisch.
Cecile konnte es kaum erwarten, den „Festtagsbraten", wie Valenduil ihn nannte, zu probieren.
„Valenduil...was soll das Gerede von einem Festtag?" Cecile rutschte etwas näher zu dem Elf.
Valenduil drehte ihr sein Gesicht mit den zwei markanten langen Narben auf der linken Gesichtshälfte zu.
„Ach Cecile...es ist Weihnachten!"
Cecile blickte ihn ungläubig an, hielt kurz inne und musste dann lachen.
„So lange sind wir schon zusammen unterwegs? Meine Güte..."
Sie atmete tief ein und blickte hinauf zum Sternenhimmel.
„Valenduil...", sie senkte ihren Blick wieder und richtete ihre hellblauen, klaren Augen auf ihn. „Du bist einfach nur...lieb..." Sie blickte ihn an, wie sie lange schon keine Person mehr angesehen hatte.
Ihr Schoss plötzlich das Bild von der kleinen Mavis in den Kopf.
Sie wandte sich von Valenduil ab und wischte sich hastig mit der Hand über die Augen.
„Ach Cecile...du bist schon eine sonderbare Frau. In dem einen Augenblick lächelst du mich an, als könnte dich nichts auf dieser Welt erschüttern und dann...
Du bist wirklich rätselhaft. Aber ich glaube du...du hast ein gutes Herz."
Cecile senkte ihren Blick.
„Trotzdem...", fuhr Valenduil mit vorsichtiger Stimme fort. „...glaube ich nicht, dass du die bist, die du vorgibst zu sein."
Ceciles Augen verengten sich.
„Als wir vor ein paar Monaten in die Nähe von Trinsic gekommen waren und ich alleine in die Stadt geritten war, um für jemanden etwas zu erledigen, habe ich...sagen wir...", Valenduils Stimme wurde plötzlich ernst. „...Nachforschungen angestellt."
Sehr langsam erhob Cecile ihren Kopf und blickte Valenduil finster in die Augen.
„Na...hast du wirklich geglaubt, ich nehme dir deine Geschichte ab?
Du hast damals keinerlei Spuren einer körperlichen Auseinandersetzung an dir gehabt.
Du hattest erzählt, dein Mann habe dich geschlagen..."
Ceciles Augen verloren ihren klaren Glanz.
„Versteh mich nicht falsch...ich hatte nie den Eindruck, dass ich dir nicht trauen kann, aber..."
„Aber was?!", fuhr ihn Cecile mit harter Stimme an. „Aber was hat dich veranlasst, Nachforschungen anzustellen?!"
Der Elf zuckte kurz zusammen, bevor er weiter sprach.
„Ich wollte wissen, mit wem ich es zu tun habe. Ich war...neugierig...vielleicht ein bisschen...fasziniert."
„Fasziniert...wovon den bitte"?
Allmählich dämmerte es Cecile, dass sie sich in dem jungen Elf getäuscht haben konnte.
Sie spürte wie ihre Hand unbewusst in die Nähe ihres Dolches wanderte.
„Keine Frau spannt einen Bogen wie du, wenn sie es nicht schon lange Zeit vorher erlernt hat. Dein geschmeidiger Gang, das Tänzeln über Zweige und Äste, deine Art, sich umzusehen...lauernd, wie ein Tier, das sich Deckung sucht.
Du bist eine gute Schauspielerin Cecile, aber nicht gut genug, um jemanden wie mich zu täuschen."
„Jemanden wie dich...?" Ceciles Stimme klang plötzlich heiser. Unter ihrem Mantel verkrampfte sich ihre Hand zu einer Faust.
Ihre Gedanken begannen zu kreisen.
„Ja...jemand, der seit seiner Kindheit mit Waldläufern zusammen gelebt hat, jemand, der mit dem Bogen vertraut ist, wie mit..." Er suchte nach einem passenden Vergleich.
„Ach...das ist auch unwichtig. Jedenfalls gibt es keinen reichen Händler namens Boisseau in Trinsic. Überhaupt habe ich diesen Namen bisher nie vorher gehört.
Vielleicht war es auch das, was mich stutzig gemacht hat. Sieh...ich bin häufig mit Städtern auf Reisen. Sie erzählen mir von ihren unwichtigen, unbedeutenden Dingen, prahlen mit den Verbindungen, die sie haben, Namen anderer reicher Händler, freuen sich über ihr angehäuftes Gold, dass ihnen rein gar nichts nützt, wenn ich sie nur um die falsche Ecke führe.
Aber den Namen Boisseau habe ich in Zusammenhang mit einem Händler nie vernommen. Dafür wusste aber in Trinsic jemand von einer jungen, schönen, rothaarigen Frau zu erzählen, die vor mehr als einem Jahr, ein Etablissement mit den Namen Die kleine Meerjungfrau eröffnet haben soll und dann genauso plötzlich verschwunden ist wie sie gekommen war. Außerdem gab es Gerüchte, von dem Verschwinden verschiedener Personen, die mit diesem Etablissement zu tun hatten...
Cecile...", er blickte sie ernst an. „Ich bin nicht dämlich. Zwar lebe ich die meiste Zeit im Wald, aber ich habe Augen im Kopf. Außerdem komme ich viel herum, wenn ich meine „Kunden" durch die Wälder von einer Stadt zur nächsten begleite."
Cecile spürte, wie sich etwas langsam um ihre Kehle verengte und ihr den Atem nahm.
„Und...?", erwiderte sie mit eisiger Stimme. „Noch irgendwelche Erkenntnisse?"
Valenduil nickte stumm.
„Ja...durch Zufall erwähnte ich deinen Nachnamen vor etwa einem Monat, als ich bei einem älteren Händler in Minoc den neuen Mantel für dich gekauft habe. Und..."
Cecile wurde schwindelig.
„Genug!!!", schrie sie ihn an und sprang von ihrem Platz auf.

Sie rannte von dem Feuer weg und ließ sich gegen einen Baum fallen.
Tränen liefen über ihr schönes Gesicht.
Ohne dass sie es hörte, war ihr Valenduil gefolgt.
„Der Händler war sehr überrascht, als er den Namen Boisseau hörte, denn er konnte sich gut an eine Familie mit diesen Namen erinnern. Er berichtete mir von einem aufstrebenden jungen Geschäftsmann, mit einer wunderschönen Frau, die gemeinsam ein kleines Kind hatten - ein Mädchen mit roten Haaren."
Valenduil legte vorsichtig eine Hand auf Ceciles Schulter.
Sie zuckte zusammen. Im selben Moment löste sich ihr Dolch aus seiner Scheide.
Ihre Stirn lehnte an der harten, kalten Rinde des Baumes und Tränen bahnten sich den Weg durch das Fell ihre langen Mantels.
Der Gedanke an ihre Eltern machte sie fasst wahnsinnig. Sie wollte diesen Schmerz beenden, aber Valenduils Stimme verstummte nicht.
„Die Familie Boisseau war in Minoc einst bekannt für ihren Reichtum, dem sie dem Handel mit verschiedenen Gütern verdankte, aber eines Tages...kam die Familie nicht von einer Schiffsreise zurück. Der Händler..."
„Es reicht...hör auf...", flüsterte Cecile mit gebrochener Stimme.
„Der Händler war mit seiner Frau und seinem Kind nach Nujel'm aufgebrochen und von dieser Fahrt ist er nie wieder zurückgekehrt. Man hatte seine und die Leiche seiner Frau in einer Gasse in Nujel´m gefunden, aber seine Tochter..."

Plötzlich fuhr Cecile herum. Ihr Gesicht war von Tränen überströmt. Ihre Augen blitzen in einer Mischung aus tiefer Trauer und blanker Wut auf.
Leider war es zu dunkel, selbst für einen Elfen, um das zu erkennen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung führte sie den marmorierten Stahl ihrer kurzen Klinge an Valenduils Hals.
„Wie konntest du es wagen, mir nachzuspionieren?!", kreischte sie ihn an.
Valenduil wusste nicht, wie ihm geschah und ließ sich von Cecile zurückschieben, die ihn mit einer Kraft zum Feuer drängte, wie er es von der schlanken Frau nicht erwartet hätte.
Er ahnte, dass jetzt ein falsches Wort verheerende Folgen für ihn haben könnte.
„Cecile...hör mir bitte...hör mir bitte bis zum Ende zu...", stammelte er.
Cecile raste vor Zorn. Sie war kurz davor ihm die Kehle durchzuschneiden.
„An diesem Tag waren noch andere, fremdländische Menschen in Minoc, die sich bereits einige Wochen vorher nach der Familie Boisseau erkundigt hatten!"
Valenduil fühlte, dass der Druck des Stahls an seinem Hals kurz schwächer wurde.
„Was?!"
Valenduil wollte nicken, aber hatte Angst, dass diese Bewegung ungewollt sein Ende hervorrufen könnte.
Mit zitternder Stimme fuhr er fort.
„Unglücklicherweise war einer dieser Leute zur gleichen Zeit vor dem Laden des Händlers vorbeigegangen und als der Händler den Mann durch die Fenster sah, rief er ihn zu uns rein...er dachte das wäre hilfreich...und..."
„Du hast...mit einem....dieser...dieser Männer gesprochen?"

Cecile und der junge Elf waren nun dem Feuer wieder nahe und Valenduil konnte den blanken Hass in den Augen Ceciles erkennen.
Mit einer blitzschnellen Drehung befreite er sich von Ceciles Dolch und entfernte sich mit einem Sprung von ihr. Neben dem prasselnden Feuer kam er zum Stillstand.
Er nahm eine für Cecile befremdliche Haltung ein und duckte sich wie eine Raubkatze, die zum Sprung ansetzt, immer noch ihren Dolch im Blick behaltend.
„Nimm diese Waffe weg...", sprach er mit ruhiger Stimme, wie damals , als sie sich das erste Mal begegneten.
Cecile dachte unweigerlich an diesen Moment und wünschte sich, sie hätte ihn damals getötet.
„Nimm den Dolch weg. Ich kann mir denken, dass du damit umgehen kannst. Wahrscheinlich genauso gut wie mit dem Bogen - und natürlich der Armbrust, die du immer versucht hast, vor mir zu verstecken. Du hast sie gar nicht deinem angeblichen Ehemann gestohlen...beides gehört dir - richtig?"
„Was hat dir dieser Mann von mir erzählt?", zischte Cecile und dachte gar nicht daran, den Dolch aus seiner Richtung zu nehmen.
„Gar nichts. Er hat mich gefragt, warum ich mich für die Familie Boisseau interessiere."
Valenduil zögerte einen Moment.
„Ich...ich habe ihm gesagt, dass mir ein reicher Händler auf dem Weg nach Minoc von dieser einst so reichen Familie und ihrem plötzlichen Verschwinden erzählt hat, ich seine Geschichte für gelogen gehalten habe und mich deshalb bei einem örtlichen Händler nach dem Wahrheitsgehalt der Geschichte erkundigen wollte."
„Und das hat er dir abgenommen?"
„Ich weiß es nicht genau, aber ich vermute nicht. Er hat mir einen großen Beutel voll klimpernder Goldmünzen vor die Nase gehalten und mir gesagt, ich solle ihm Informationen liefern, wenn ich jemals einer Frau mit dem Namen Cecile Boisseau begegnen würde."

Valenduil stand immer noch in der merkwürdigen Haltung da und lauerte auf Ceciles Reaktion.
„Ich...ich verstehe nicht...", Cecile versuchte sich vom Zorn abzuwenden und einen klaren Gedanken zu fassen. „...warum du mir das erzählst. Willst du das Gold, was der Mann für mich geboten hat? Sollte das eine Art Beichte sein, bevor du mich ihm auslieferst...?"
Kaum hatte Cecile zu Ende gesprochen, sprang der schlanke Elf ihr entgegen.
Sie wollte nach im stechen, aber verfehlte seine Schulter, die er geschickt rechtzeitig zur Seite drehte. Sie hatte ihn unterschätzt...

Im nächsten Moment spürte Cecile nur noch Schmerzen in ihrem Handgelenk und ihr Dolch viel zu Boden. Valenduil hielt ihr Handgelenk unnatürlich verdreht in seiner Hand.
Seine Stimme war wieder ruhig, aber sie konnte seinen Ärger nicht vollständig verbergen.
„Es reicht jetzt...ich will dir nichts tun, setzt dich jetzt hin!"
Er zog Cecile zum Feuer drückte ihr unsanft auf die Schulter, während er mit der anderen Hand immer noch ihr Handgelenk fest im Griff hatte.
Cecile biss sich auf die Lippen und folgte ihm widerwillig.
Valenduil ließ langsam von ihr ab und setzte sich - dieses Mal etwas weiter entfernt von ihr - ans Feuer.
„Cecile, ich frage mich, wie du überhaupt nur an so etwas denken kennst. Seit über einem Jahr reisen wir durch das Land. Ich habe fast mein ganzes Gold für uns beide ausgegeben, damit wir uns..." Er suchte nach dem passenden Wort. „...treiben lassen können. Meinst du, ich mache so etwas mit einer, die mir nichts bedeutet? Mir war vom ersten Tag an klar, dass du Hilfe brauchst und ich habe dir geholfen - oder?"
Cecile blickte ihn unsicher an. Langsam wich der Zorn aus ihren Augen.
Sie nickte kurz.
„Ich wollte dir von dieser Angelegenheit erzählen, weil ich dich warnen wollte...Außerdem...außerdem sollte das hier...", er wedelte mit der Hand in der Luft herum und verteilte den nach verbrannten Braten riechenden Qualm. „...sollte das hier unser Abschiedsabend sein...", erklärte Valeduil mit trauriger Stimme.
Cecile schaute ihn überrascht an.
„Abschied...?"
„Ja...und das hier, sollte dein Abschiedsgeschenk sein..." Er holte hinter sich einen prall gefüllten Beutel hinter einem Busch hervor und warf ihn Cecile zu.
Als sie den Beutel auffing, klimperte Gold darin.
Sie schluckte.
„Cecile...ich...du...wir sind gute Freunde geworden und es ist mir egal, was du früher gemacht hast oder wer du früher warst, aber es ist an der Zeit, dass sich unsere Wege trennen.
Das Gold ist von diesem Mann aus Minoc...der, der mich für Informationen über dich bezahlen wollte."
Cecile spürte einen Kloß im Hals. Sie schluckte, aber es wurde nicht besser. Sie spürte wie ihr Gesicht heiß wurde.
Mit errötetem Gesicht hebte sie ihren Kopf und blickte Valenduil in die Augen.
„Warum müssen wir uns trennen...ist es weil...", flüsterte sie mit gebrochener Stimme.
„Weil du mich gerade töten wolltest...?"
Cecile wandte beschämt ihr Gesicht ab.
„Nein...darum nicht. Aber ich glaube, dass dich diese Leute verfolgen. Deine ganze Geschichte, dein übertrieben vorsichtiges Verhalten...Ja, es ist besser geworden in der letzten Zeit, aber am Anfang."
Ceciles Mundwinkel zuckte, als wollte sie Lächeln.
„War wohl doch keine gute Schauspielerin..."
„Cecile...wenn das alles ist, was du dazu zu sagen hast..."
„Nein...nein...!" Cecile stand auf und ging zu Valenduil. Sie kniete vor ihm nieder und legte den Beutel beiseite. Sie nahme seine Hände zwischen ihre und blickte mit traurigen Augen zu ihm hoch.
„Nein...ich...ich bin ein Monster, das lernen musste zu töten...alles zu töten, was sich ihm in den Weg stellt."
Es war dieser Moment, der sie erkennen ließ, dass sie damals richtig gehandelt hatte, als sie Mavis vor den Toren Trinsics verlassen hatte.
„Ich verdiene deine Freundschaft nicht, Valenduil. Und ich kann auch dieses Gold nicht annehmen."
Valenduil zog seine Hände zurück und hob den Beutel vom Boden auf.
Er schüttelte langsam den Kopf.
„Nein, du nimmst das jetzt. Du brauchst es um irgendwo neu anzufangen. Nimm eine neue Identität an, schneide dir deine Haare ab oder so.
Ich meine...wenn man verfolgt wird und so hübsch wie du aussieht und einen so seltenen Namen trägt, ist es schon reichlich dumm nicht beides zu ändern. Oder nicht?
Valenduil legte seinen Kopf schief und lächelte leicht.
Cecile ließ ihren Kopf auf seine Knie fallen und drückte sich an ihn.

Lange Zeit saßen sie so da. Der „Festtagsbraten“ war mittlerweile verbrannt und sie wussten beide, dass es so sein musste, wie Valenduil es gesagt hatte.
Am nächsten Morgen nahmen sie voneinander Abschied.
 
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