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Aus dem Leben eines Bootsmanns - Der Schiffsbruch

Mac Mahon

Schüler
Der Teufel des Meeres (Die Legende von Davy Jones)

Der Abend hatte sich über den Hafen von Serpent’s Hold gelegt und ließ die nächste schwüle Sommernacht erahnen. Das Treiben am Hafen hatte nun ein wenig nachgelassen und Platz für die verliebten Paare gemacht, die eng umschlungen nun gemächlichen Schrittes an der Hafenkante entlang flanierten. Die Geräusche fröhlicher Seemänner aus der nahen Taverne am Hafen waren verstummt, als die kraftvolle Stimme eines Barden ein Lied angestimmte, das noch über die Straße hinweg zu einem kleinen Haus mit Balkon zu hören war, auf dem in der nun einbrechenden Dunkelheit ein Mann saß.

*Some say he steers a spectral ship
That's ghostly, grey, and grand
He's doomed to sail the seven seas
And ne’er set foot on land
And if you chance to see him
You'll soon be dead from fright
So sailors tell their children
On a dark and stormy night

Oh Forty fathoms** deep he walks
With rusty keys his locker locks
Just like he's half asleep he stalks
Forty fathoms deep
Forty fathoms deep he owns
Each sleeping sailor's soggy bones
The legend they call Davy Jones
At forty fathoms deep



Erst vor wenigen Tagen hatte man ihn an Land gebracht, auf diese Inselfestung mitten in der Sosarischen See – mehr tot als lebendig. Ein kleines Handelsschiff hatte die Wrackteile der „Ricochet“ entdeckt und war ihnen solange gefolgt, bis sie ihn gefunden hatten – völlig ausgemergelt und verbrannt von der erbarmungslosen Sonne. Für ihn, den Schiffbrüchigen war es nur ein Wunder, das ihm die Einsamkeit auf dem Meer nicht den Verstand geraubt hatte. Für ihn, Mac Mahon, den alle nur Jacaran nannten, waren diese einsamen Tage vielmehr das Wertvollste, was er bislang in seinem Leben erfahren hatte.
Vor einigen Wochen hatte er als Bootsmann auf der „Ricochet“ angeheuert, ein Versorgungschiff, das von Vesper aus regelmäßig die kleineren Inseln dieser Welt angelaufen war und die Menschen mit dem Nötigsten versorgte. Die Fahrt war auch ruhig verlaufen, bis sie dann kurz vor der sicheren Einkehr in den Hafen von Trinsic auf der offenen See in einen schweren Sturm geraten waren. Einer jener Stürme, in denen ein Schiff, sein Kapitän und seine Mannschaft keine Chance haben. Kapitän Henry Russel hatte in jener Nacht aufgegeben. Alles. Und Alle. Er hatte kapituliert.

Nor east we sail to Brimstone head
The captain, crew, and I
At sixteen knots we fairly flew
Beneath a darkening sky
A top the main mast I rode
Near ten stories high
Went up there blew an icy squall
And overboard went I

Oh Forty fathoms deep he walks
With rusty keys his locker lock
Just like he's half asleep he stalks
Forty fathoms deep
Forty fathoms deep he owns
Each sleeping sailor's soggy bones
The legend they call Davy Jones
At forty fathoms deep



Jeder, der dem Tod ins Gesicht schaut, kapituliert irgendwann. Er verschont nur wenige, nur um dann weiter sein böses Spiel zu treiben. Mac kannte seinen Namen nur zu gut – wie oft hatten ihn die Männer, denen er als Bootsmann vorstand, schon genannt. Davy Jones war kein Name, der von den Piraten kam - nein, alle Seefahrer nannten ihn so. Davy Jones stand für den unvorstellbaren nassen Tod auf See. So war das. Das machte es vorstellbarer für einen. Davy Jones war der böse Geist des Meeres, der auf dem Grund der See auf seiner Kiste saß und auf die ertrunkenen Seeleute wartete, die in den nassen Fluten umkamen. Wo sie ihr Grab und ihre nassen Knochen die letzte Ruhe fanden. Und wo die allerbösesten unter ihnen in Davy’s Kiste verschlossen wurden, so dass ihre Seelen keine Ruhe mehr fanden. Bis in alle Ewigkeit.

Aus einer fernen Vergangenheit hörte Mac die Stimme seines Vaters. Natürlich hatte Patrice Mahon auch versucht, ihm mit den alten Geschichten Angst zu machen. Man macht seinem Kind Angst, weil man nicht will, dass es etwas tut, was man als Vater nicht will. Man erzählt ihm Schauermärchen. Sein Vater konnte das gut, aber Mac hatte trotzdem gemacht, was sein Vater nicht wollte. Er war zu See gegangen – mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergaben.

I hold my breath I say a prayer
For all those mates who died
I turn my back on Davy Jones
And cast my fears aside
Raise up my head and kick my feet
And toward the light I go
The heartless jailer left behind
The locker far below



In jener Nacht war er dort. Der Teufel des Meeres, der über all die bösen Geister der Tiefe herrschte. Seine Macht hatte er gut demonstriert. Mit voller Wucht.
Er kam mit dem Sturm und ging auch dann. Niemand hatte sagen können, warum er ausgerechnet an diesem Tag erschien, um mit seiner Kiste in See zu stechen. Dort oben in der Takelage saß ein monsterhaftes Wesen, das alles verlachte und sich drüber freute, wie die aufgewühlte See ihr Werk tat. So lange, bis die „Ricochet“ gesunken war. Und alle ertrunken waren – bis auf einen einzigen Mann. Bis auf ihn.

Oh Forty fathoms deep he walks
With rusty keys his locker lock
Just like he's half asleep he stalks
Forty fathoms deep he owns
Each sleeping sailor's soggy bones
The legend they call Davy Jones
At forty fathoms deep


Die Stimme des Sängers hallte noch ein wenig nach. Für einen Moment nahmen die Geräusche auf der Straße unten zu, als die Gäste der Taverne sich bald drauf verabschiedeten und jeder seines Wegs nach Hause ging. Bald war nur noch das leise Platschen der Wellen zu hören, die an die Mole schlugen. Ein laues Lüftchen wehte vom Meer hinüber und brachte etwas Abkühlung.

Mac blieb noch eine Weile auf dem Balkon und genoss die nun eingekehrte Stille der Nacht. An Schlaf war nicht zu denken in dieser schwülen Nacht. Sein Magen verkrampfte sich etwas, und das lag nicht nur daran, das er einige Tage schon nichts richtiges essen hatte können, nur Haferbrei. Sein Blick fiel auf den kleinen Tisch im Inneren seines Zimmers. Dort hatte irgendjemand auch eine Kerze, Papier und Tinte hingestellt, vermutlich, um sich Notizen über das Fortschreiten seines Gesundheitszustandes zu machen. Mac dachte nach. Es war auch keine schlechte Idee, für sich selbst die Erlebnisse der letzten Tage aufzuschreiben.

Wenn es sowas wie ein Schicksal gab, was hatte es dann noch mit ihm vor? Mac wusste es in diesem Moment nicht zu sagen. Es würde sicher noch eine Untersuchung der königlichen Marine über den Untergang der „Ricochet“ geben. Aber nun saß er auf Serpent’s Hold fest. Auf dieser Inselfestung mitten im Meer. Bis sie ihn nach Britain holen würden, hatte er noch einige Tage Zeit, gesund zu werden und seine Erlebnisse zu verarbeiten.

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* The Legend of Davy Jones by David Jeremiah 2006
** 1 Fathom = 1 Faden = 6 Fuß = 1,828 m
 

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Mac Mahon

Schüler
Der Sturm

Stürme kommen nicht plötzlich, es gibt eine Jahreszeit dafür. Stürme zeigen an, dass der Sommer bald vorüber ist und der Herbst vor der Tür steht. Jedes Jahr entstehen auf den südlichen Gewässern dieser Welt heftige tropische Wirbelstürme über dem Meer, wenn das Wasser noch von der unerbittlichen Sonne des Sommers aufgeheizt ist.
Feuchtwarme Luftmassen steigen auf, fangen an sich zu drehen und reißen dabei auf dem Weg nach oben wiederum kühlere Luftmassen mit sich, die sich dann ebenfalls erwärmen. So bildet sich irgendwann ein riesiger Wirbel mit einem Auge in der Mitte, aus dem sehr hohe Windgeschwindigkeiten entstehen können. Bleibt ein so entstandener Wirbelsturm nun über dem Meer und wird weiterhin mit feuchter warmer Luft versorgt, kann er sich sogar ziemlich lange halten.
Aber sobald er Land und auf die Küste trifft, ist das vorbei. Die aufgestauten Wolken werden sich mit heftigen Ergüssen abregnen, die Landoberfläche abkühlen und dem starken Wind, dessen Kraft dann allmählich nachlässt, die Energie nehmen. Und erst wenn alles vorbei ist, weiß man wirklich, welcher Schaden angerichtet wurde.

Mac hatte schon öfter beobachtet, wie ein Sturm entstand. Er wusste auch, dass dieser Sturm nicht plötzlich gekommen war. Über dem Meer hatte sich eine dunkle, schwarze Wand zusammengebraut, die die „Ricochet“ gut hätte umschiffen können. Mac war nur ein einfacher Bootsmann, ein junger noch dazu. Aber er war lange genug unter Kapitän Henry Russel gefahren, um zu wissen, dass auch die Selbstüberschätzung dieses alten Marineoffiziers Schuld daran trug, dass die „Ricochet“ schließlich untergegangen war. Kapitän Henry Russel, das wusste er, war nicht zum Kapitän geboren worden...

Er hatte sich schon vor einer Weile auf sein Bett gesetzt und lehnte mit den Rücken an der Wand. Die Bilder dieser Sturmnacht waren wieder da und nahmen ihn gedanklich gefangen. Mac schloss die Augen und war wieder mittendrin im Geschehen…

---

Der Sturm tobte bereits auf dem offenen Meer, das nun ein einziger schwarzer nasser Raum geworden war. Dichter, schwerer Regen prasselte unaufhörlich von Wolken verhangenen Himmel, aus dem immer wieder grelle Blitze herunterzuckten und die Umgebung in gleißendes Licht tauchte. Der laut brüllende Wind türmte mit heftigen Böen das Wasser zu hohen Wellen auf, die das Schiff immer wieder von einer Seite auf die andere warfen. Besonders hohe Wellen schossen über das Deck des Schiffes und schienen es unter sich begraben zu wollen. Immer wieder drohte das Schiff zu kentern, aber wie durch ein Wunder tanzte es sich voller Trotz durch dieses nasse Inferno.

Irgendwo schrie eine Stimme etwas. Der Wind jaulte nun in den Wanten und in der Takelage, wurde stärker und stemmte sich in die Segel. Das Schiff hob sich nun mit jeder Welle und glitt dann wieder in ein tosendes Wellental hinab, hinein in hohe Wellenkämme, die von den heftigen Windstößen zu weißem Schaum gepeitscht worden waren. Wieder hob sich der Bug hoch über die Wellen und schien fast zu fliegen.

„In die Wanten, Männer! Los! Holt die Segel ein!“ Immer wieder brüllte Kapitän Henry Russel gegen den jaulenden Wind an. „Steuer hart Backbord!“
Am Hauptmast hantierten dunkle Schatten an den Tauen, sich den unbeherrschbaren Winden und der einstürzenden Wassermassen wiedersetzend und refften das mächtige Großsegel des Schiffes.
Eine riesige Welle legte das Schiff beinahe auf die Seite. Henry wurde gegen die Wand geschleudert, konnte sich aber festhalten und das Steuer wieder erreichen. Erneut strömte Wasser über das Deck, und für einen Moment sah es so aus, als wenn ein Teil der Matrosen über Deck gespült worden waren, aber als die Gischt sich verzog, sah er sie, die Taue in den Händen haltend wieder aus den Fluten auftauchen. Er übergab dem diensthabenden Bootsmann das Kommando, und kämpfte sich auf dem schwankenden Schiff nach unten in seine Kajüte.

Mac fluchte leise. Er hatte längst abgelöst werden müssen. Die gesamte Nachtwache hindurch hatte er jetzt versucht, das Schiff heil durch die zischenden Wogen zu bringen, die beständig über das Vorderdeck schossen und das Schiff immer wieder heftig erschütterten. Er war müde, aber die unbändige Wut darüber, dass wieder einmal eine falsche Entscheidung des Kapitäns sie in die diese Lage gebracht hatte, ließ ihn einfach weitermachen. Der Alte Russel war ihm längst egal, aber er hatte eine Verpflichtung gegenüber seinen Kameraden an Deck.
Die Glocke schlug nun acht Glasen und läutete damit die erste Tagwache ein. Mac sah auf, als er einen Schatten in der beständigen Gischt erblickte, der sich vorsichtig in geduckter Haltung über die rutschigen Planken bewegte. Ein erneuter Brecher krachte wieder gegen die Seite des Schiffes, ergoss über das Deck und umspülte die Knie der hageren Gestalt, die luvseits zu den Wanten hin getaumelt war.
Die schlingernde Fregatte legte sich stark zu Leeseite, und ein heftiger Windstoß blies ihm die Gischt ins Gesicht.
„Verflucht, Doktor, sind Sie das?“ Mac brüllte gegen den tosenden Lärm an. Ein erneuter Blitz krachte durch die Nacht und beleuchtete den Mann, der nun keine zwei Fuß mit blassen, tropfnassen Gesicht vor ihm stand und mit keuchendem Atem seinen Hut festhielt.
„Endlich, Cornils, wo bleibt die Ablösung? Wo ist der Käpt‘n? Und ich brauche hier mehr Männer an Deck!“
„Käpt’n Russel ist in seiner Kabine und schreibt Berichte. Ich habe Ihnen bereits alle Männer geschickt, die noch gehen können.“ Cornils de Jong legte dabei die Hände wie einen Trichter um den Mund.“ Die anderen sind noch zu schwach, Mahon, das ist zwecklos. Die halten sich nicht auf den Beinen.“
„Gelbfieber? Die Männer reden schon seit Tagen darüber. Oder bloß seekrank?“
„Nein, Mahon, keines von beiden. Verdorbene Nahrungsmittel, vermutlich die Fleischration von gestern. Aber so schlimm war’s noch nie. Keiner hält lange aus. Sie übergeben sich ständig. Ich hatte eher gehofft, sie könnten noch ein paar Leute…“
„Das geht nicht, Doktor! Ich kann hier keinen entbehren! Ich habe schon die Schiffsjungen und Reffer nach oben schicken müssen, die da gar nicht hingehören.“

Das Schiff schlingerte nun wieder heftig. Erneut ergossen sich die Fluten über das Deck und hätten die Männer beinah auseinander gespült. Mac musste Cornils an der Jacke festhalten, damit dieser nicht fortgerissen wurde. Er wollte etwas sagen, aber eine kräftige Böe blies seine Worte einfach fort.
In der Ferne schlugen wieder die Blitze ein und streuten sich fächerartig ins Meer. Die tosende See und die Takelage wurden für einen Moment hell erleuchtet. Vier Männer standen um das Steuerrad und versuchten zu verhindern, dass man die Richtung verlor, aber es entglitt ihnen immer wieder. Einer der Jungen kämpfte sich nun mühsam gegen den Wind heran. Er rutschte immer aus und fiel hin, aber Hand um Hand zog er sich an einem der gespannten Manntaue entlang wieder auf die Beine. Völlig außer Atem erreichte er dann auch die beiden Männer. Es war der junge Piet.
„Mr. Mahon, Sir!“ rief dieser. „Mr. Mahon, wir haben Thomas verloren!“
„Herr Gott, Piet! Was zum Teufel meinst du?“
„Wir sind rauf nach oben in die Masten, aber niemand hat ihn dann wieder runterklettern sehen. Niemand weiß, wo er ist.“
„Habt ihr Jungs nicht durchzählen lassen, als ihr wieder an Deck wart?“ Piet zögerte kurz und schluckte dann.
„Nein, Sir!“
Mac richtete den fragenden Blick, mit dem er den Jungen bedacht hatte, nun auf den Doktor.
„Und Cornils? Hat er sich vielleicht auch krank gemeldet?“
„Niggels hat überall nach ihm gesucht, ehrlich!“ Piet beeilte sich das zu sagen, vor Mac eine Antwort von dem Doktor bekam.
„Sir, ich… wir alle fürchten, das er unbemerkt über Bord gegangen ist.“
„Verflucht sei diese Nacht, verflucht sei sie! Piet, schick nach Mr. Joyce, er soll mich hier ablösen. Ich gehe Meldung beim Käpt’n machen.“ Mac wollte schon fort und sich gegen den Sturm zum Unterdeck stemmen, wandte sich aber dann noch mal an den Schiffsarzt.
„Cornils, Sie kommen mit mir. Hier oben können Sie nichts machen. Mir wäre es sowieso lieber, Sie wären nicht auf dem Deck bei so einem Wetter.“

Mac schickte den Arzt dann voran und wartete dann, bis Brendan Joyce, einer der unteren Offiziere das Kommando von ihm übernahm. Er blickte noch einmal zu einigen der Männer in der Kuhl des Mittelschiffes hinüber, die dort erschöpft etwas Schutz gesucht hatten. Auf der schmalen Stiege im Niedergang musste er sich festhalten, da die Stufen beim Rollen und Stampfen des Schiffes zu springen schienen. Auf dem Zwischendeck musste er ein paar der Männer Platz machen, die nun nach oben stapften, um die Morgenwache zu übernehmen. Als auch der letzte Mann fluchend an ihm vorbei in die heulende Schwärze des Sturmes gegangen war, kamen die anderen Männer unter Deck. Eingehüllt vom Nebel der Gischtfetzen, die im schmutzigen Lichtkreis einer alten rostigen Laterne schillerten, rutschten sie auf den nassen Stufen noch tiefer in das Deck hinunter zu ihren Hängematten. Die Männer hatten es eilig, und da jeder der erste sein wollte, kam es irgendwo am Fuße der Stiege zu einem Gerangel, woraufhin einer der Männer das letzte Stück nach unten stürzte.
Wütende Stimmen drangen nach oben.
„He, Leute!“ Mac’s Ruf drang warnend nach unten. „Muss ich erst den Lieutenant holen?“
Ein mehrstimmiges „Nein, Sir!“ hallte nach oben, und das Geschubse und Fluchen hörte auf.
„Die haben Thomas erledigt, die verfluchten Mistkerle“, schnappte er noch von irgendwo auf, als er weiter nach unten stieg.
„Ausgerechnet Thomas.“
 
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Mac Mahon

Schüler
Im Auge des Sturms

Einen solchen Sturm auf See hatte Kapitän Russel noch nie erlebt, und er fühlte sich, obwohl er schon viele Stürme auf dem Meer überstanden hatte, in diesem Moment völlig hilflos den gewaltigen Kräften der Natur ausgeliefert. Aber er vertraute auf seine Männer, die erfahren genug waren und die See kannten. Henry kämpfte sich zu seinem Arbeitstisch vor. Er dachte an Mary, seine Frau, die er immer wieder allein in Vesper zurücklassen musste, wenn der Ruf der See stärker wurde. Er zog sich auf den Stuhl und versuchte, sich gegen das jammervolle Heulen des Windes in der Takelage abzuschotten. Wieder galten seine Gedanken Mary. Wie sehr er sie liebte, und wie sehr sie doch immer unter seinen Eitelkeiten zu leiden gehabt hatte. Und er hatte es ihr nie gesagt.
Henry griff in die Schublade und holte Pergament, Tinte und Feder hervor und begann dann zu schreiben:

Allerliebste Mary!
Ich bin am Leben, aber die Luft wird hier schlecht, und mit Gott habe ich längst meinen Frieden gemacht. Du hast mich nie gefragt, warum ich zur See gefahren bin. Es war für die Kinder, für bessere Zeiten. Wir Männer dachten dabei an unserer Familien und fühlten uns nicht schlecht. Bleibe in Britannia und gib den Kindern ein Zuhause. Und heirate einen anderen – bleibe nicht allein!
Oh, wie sehr ich dich liebe! Wir beide sind schwach geworden und unserer Herzen haben sehr schnell füreinander geschlagen. Sage meinem Vater, dass meine Seele gerettet wurde.
Nun liege ich in einem nassen Armengrab, und werde dich im Himmel wieder sehen, wo ich auf dich warten werde.

In ewiger Liebe
Henry


Er hatte es schnell mit zittrigen Händen geschrieben, ohne sich den Text noch einmal durchzulesen. Eilig rollte er das Pergament zusammen, steckte es dann in eine leere Weinflasche und verkorkte diese wieder. Dann lehnte er sich zurück. Das ständige Schlingern, der Anprall der Wogen und das Heulen des Windes vereinigten sich nach einer Weile zu einem einzigen Geräusch und wirkten hypnotisierend auf ihn. Und während er an seine Mary dachte, schlich sich der Schlaf heran und überwältigte ihn, bevor er es bemerkte.

Er bekam nicht mit, dass jemand die Tür seiner Kabine geöffnet hatte, ins Zimmer getreten war und die Kiste des Kapitäns nach dem Logbuch durchsuchte. Und auch nicht, wie ein hagerer Schatten das Buch zusammen mit einem silbernen Medaillon, dem letzten Brief an Mary aus der vorher zertrümmerten Flasche, etwas Gold sowie wichtiger Karten in eine mit Pech abgedichteten Kiste verstaute, die er sich sorgsam unter dem Arm klemmte und den Raum so leise verließ, wie er ihn betreten hatte.

---

Mac lag in seiner Koje und versuchte etwas Schlaf zu finden, aber es gelang ihm nur schlecht. Obwohl er diese mit Decken noch ein wenig ausgestopft hatte, wurde er immer wieder durch heftiges Schlingern auf der Liegefläche hin und her geworfen. Aber die Müdigkeit, die er in sich fühlte gewann recht bald die wieder die Oberhand, und er fiel in einen unruhigen Schlaf.
Er wusste nicht wie lange er so dagelegen hatte, als das Schiff plötzlich wieder sehr heftig schlingerte. Mac wurde kräftig durchgeschüttelt und schlug benommen die Augen auf. Seine Augen waren völlig verklebt und er musste erst ein paarmal kräftig blinzeln, bevor die verschwommene Sicht wieder klar wurde.
„Sir? Mr. Mahon! Wachen Sie auf!“
Mac knurrte etwas unwirsch. Er rieb die Augen, um richtig wach zu werden. Es konnte noch nicht mal eine Stunde her sein, das er sich hingelegt hatte, um sich etwas auszuruhen. Dann drehte er den Kopf zu Seite und erkannte Niggels, der aufgeregt vor seiner Koje stand.
„Was gibt es schon wieder? Kann man mich nicht schlafen lassen?“ murrte der Bootsmann.
„Tschuldigung, Sir! Befehl von Mr. Joyce, Sir! Ich soll Sie wecken. Sie sollen sofort auf die Brücke kommen!“
„Was ist los? Kommt der Lieutenant nicht klar, oder warum braucht er mich?“ Mac hatte sich nun von seiner Koje hochgerappelt und sich auf die Kante gesetzt. Sein Körper fühlte sich immer noch an wie durchgeprügelt. Niggels zuckte mit den Schultern.
„Nein Sir, er hat nur gesagt, dass Sie sofort kommen sollen.“
Er schickte den Jungen voran und machte sich dann wieder auf den Weg die nassen Planken nach oben in den Sturm zurück. Als er an der Tür des Kapitän’s vorbeikam, fiel ihm ein, dass der junge Thomas vermisst wurde und er darüber noch keine Meldung bei einem der höheren Offiziere gemacht hatte. Mac zögerte einen Moment, aber als dann lautes Schnarchen an sein Ohr drang, war sein Entschluss schnell gefasst. Sollte der alte Tyrann doch als erster mit absaufen, wenn das Schiff dank Russel’s Unfähigkeit verloren war. Er ging schnell weiter, weil die Wut wieder in ihm hochkroch, als er bemerkte, dass das Schiff bereits Schlagseite hatte.
Aus dem Getöse des Sturmes heraus hörte er nun auch andere Geräusche, die vom Rumpf des Schiffes heraufkamen. Es klang wie ein Wassereinbruch und das konnte nur bedeuten, dass das Schiff bereits leckgeschlagen war. Die extremen Schläge der gewaltigen See mussten den harten hölzernen Rumpf innerhalber kürzester Zeit regelrecht zermürbt haben. Das Holz war gerissen, und somit konnte Wasser eindringen.

Mac wollte sich gerade die Kehle nach dem Schiffszimmermann aus dem Leib schreien, als dieser bereits mit einem Trupp Männer und Werkzeug zum Kalfatern den Gang zum Lager herunterrutschte. Er kämpfte sich weiter nach draußen und wurde fast von einer starken Böe vom Deck gespült. Mac verlor das Gleichgewicht, knallte auf das Deck und rutschte mit einem der nächsten Brecher vor die Treppe des Achterdecks und landete Brendan Joyce vor die Füße, der sich am Geländer der Treppe festgeklammert hatte und ihn festhielt.
„Mahon! Endlich! Sehen Sie sich das an!“ Der Lieutenant brüllte gegen den Lärm an und deutete nach oben.
„Es klart dort auf, ich denke wir sind durch. Das Schlimmste ist vorbei.“
Es war merklich heller geworden. Starker Regen prasselte nun auf das Deck. Die See war noch aufgewühlt, aber der eben noch mit voller Wucht tobende Sturm hatte sich binnen kürzester Zeit gelegt, was dem Bootsmann merkwürdig vorkam. Ein schwacher Wind wehte nun, und durch die nun dünner gewordene Wolkendecke stahl sich sogar ein Sonnenstrahl zu ihnen hinunter. Die plötzliche Ruhe war einfach zu trügerisch. Er richtete sich auf und sah über die Reeling hinweg auf die See. Er schüttelte den Kopf.
„Nein Sir! Es ist noch nicht vorbei! Wir sind jetzt mittendrin.“
„Was meinen Sie, Mahon? Was heißt hier mittendrin?“
„Sir, das ist nicht irgendein Sturm. Das hier – ist ein Hurrikan – ein Wirbelsturm. Und wir sind in seinem Auge. Sehen Sie selbst!“
Vor ihnen türmte sich in etwa 15 Seemeilen erneut eine hohe rotierende Wand senkrecht und steil in die Höhe. Lieutenant Joyce unterdrückte ein Fluchen.
„Sie haben recht Mahon. Verflucht noch eines! Wir haben schätzungsweise eine Stunde, bevor uns der Sturm wieder mit voller Wucht trifft. Sie werden sicher schon bemerkt haben, dass das Schiff krängt, und zwar nicht unerheblich.“
Mac nickte.
„Ja, hab‘s eben gemerkt, als ich herkam. Der Zimmermann ist schon dabei und tut was er kann. Hastings ist eben an mir vorbei mit ein paar Mann zum Abdichten. Aber deswegen haben Sie mich nicht rufen lassen.“
„So ist es. Wir haben noch ein weiteres Problem, und ich fürchte das werden wir nicht mehr lösen können.“ Als Mac fragend schaute, sagte Lieutenant Joyce nur lakonisch:
„Die Ladung.“
 
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Mac Mahon

Schüler
Meeresgötter

„Marie…Marieeee!!!“ Linco Pichol lief aufgeregt zwischen seinen Gästen in der Taverne am Hafen umher in Richtung der Küche, wo seine Frau bereits seit den frühen Morgenstunden für die Verkostung der Seeleute und Hafenarbeiter sorgte, die hier im „Dog and Lions Pub“ ihr Mahl zu nehmen pflegten.
„Marie…schau nur, wer da ist!“ Atemlos blieb der Wirt in der Tür der Küche stehen und blickte seine Frau mit erröteten Wangen an, während seine Frau kaum aufblickte und weiter Eier über einer Pfanne aufschlug, die sie dann über den offenen Feuer zu Rührei verrührte.
„Er ist wieder da! Ach was sag ich denn, sie alle sind wieder da! ‘.aben wir noch alles da für ein gutes Seemannsfrühstück?“
„Linco Pichol, ich '.abe zu tun und kann nicht wie du den ‘.afen schauen! Und wir werden schon alles da ‘.aben, schließlich ist das die beste Küche in Serpents! Nun sag schon wer kommt! Du platzt ja förmlich!“
Sie sah nun auf und legte den Kopf schief, als sie ihn misstrauisch musterte.
„Etwa der König persönlich?“
Ihr Mann schnappte kurz nach Luft und stieß diese mit geschürzten Lippen wieder aus.
„Ach was, der König!... Was sollte der olle Blackthorne auf dem toten Felsen ‘.ier? Mais non, ma chère, dort…“
Linco trat neben seine Frau, legte eine Hand an ihre schmale Taille und drehte sie sanft, aber bestimmt zum dem geöffneten Fenster hin, durch das man das Treiben auf dem westlichen Docks der Insel sehen konnte. Seine Wange dicht an die ihre gelegt und sie immer noch umfasst haltend, sagte er dann verträumt mit verklärter Stimme:
„…. dort liegt eines der schnellsten Schiffe, die je auf diesen Meeren gefahren sind, dort ankert eine Königin der Meere, die nur ein wahrer Gott des Meeres zu bändigen vermag… dort steht ein wahrer ‘.eld der….“
„Aber… ich sehe dort nur die Silver Sirene, und der Kapitän ist bestimmt kein Gott!“ unterbrach Marie Pichol mit einem etwas spröden Unterton den Redeschwall ihres Mannes.
„Kapitän MacDaragh würde nicht wollen, das man ihn so nennt. Meines Wissens ‚.aben Meeresgötter so komische Spieße in ‘.and und gucken böse… was man vom Kapitän nicht sagen kann, das ist sehr ehrbarer Mann. Oder ‘.ast du schon gesehen, das Mann Schiff lenkt mit Speer?“
„… Küche…“, Linco formte eine Schnute und die vollendente etwas gekränkt seinen angefangenen Satz.
„Ein wahrer ‘.eld der Küche, ein Mann mit Geschmack. Marie, mon ange, du lässt mich ja gar nicht ausreden!“
„Und du lässt mich ‘ier nicht in Ruhe Frühstück machen!“ schmollte Marie zurück, schaute aber weiterhin neugierig zum Hafen hinüber.
„Sieh, nun kommt er den Pier entlang, aber da ist noch jemand bei ihm. Sieht wichtig aus. Das könnte….das ist….“, sie kniff die Augen zusammen, um gegen die grelle Morgensonne besser sehen zu können. Mit einem Ruck fuhr plötzlich ihre kleine rechte Faust an den Mund, um nicht laut aufzuschreien.
„Oh, mon dieu… oooh, mon dieu…ce n'est pas possible!“ entfuhr es ihr dann.

Linco blickte nun seinerseits überrascht seine Frau an, die nun vor Aufregung förmlich zitterte und vor lauter Nervösität an ihrem rechten Zeigefinger herum nagte.
„Schick sofort pétit Anelle zu Madame Tessa. Sie soll das Zimmer fertig machen. Und Louise schick ins Dorf, für frische Eier … und … und“, Marie überlegte kurz angestrengt und machte eine kleine aufgeregt, wedelnde kreisende Fingerbewegung,
„und geräucherten Aal… und Kräuter, ja unbedingt auch Kräuter. Louise soll rasch machen, das muss alles frisch sein für den feinen ‘.errn der Krone. Und du…“ Marie Pichol drehte sich nun ganz zu ihrem Mann um und tippte ihn fest mehrmals auf die Brust,
„du schaust jetzt nicht mehr auf den ‘.afen nach irgendwelchen göttlichen Erscheinungen, sondern suchst den besten Wein, den dieser lausige Keller noch zu bieten hat. Allez, vite, vite!“
Linco schmollte immer noch ein wenig, aber es amüsierte ihn schon heimlich, dass seine sonst so ruhige kleine Frau sich plötzlich aufführte wie ein Feldwebel.
„Was ‘.etzt du so? Ich bin ein alter Mann“, jammerte er gespielt, „wer ist dieser Wichtigtuer, für den du nun ‘.immel und ‘.ölle in Bewegung setzt, eh?“
Marie baute sich nun vor ihm auf und bohrte energisch ihre kleinen Fäuste in die Hüften. Wieder legte sie den Kopf schief auf die linke Schulter und sah ihren Mann herausfordernd an.
„Was guckst du so komisch, Frau, das ist nur ein Mann der Krone, der sich wichtig….“, nun stoppte Linco ebenfalls abrupt ab. Er stutzte.
„Krone?... Wichtig?... Feiner.‘.err?“ wiederholte er fast tonlos. Dann begriff er und schlug entsetzt die Hände zusammen.
“Madame Segallion! Oh, mon dieu… oooh, mon dieu! C’est terrible! C’est le diplomate!
„Oui, mon chér! Sieur Bart de Wever! Wir ‘:aben ihn erst nächste Woche erwartet. Er sollte noch gar nicht da sein!“
 

Mac Mahon

Schüler
Die große Bibliothek

Verlässt man das lustige Treiben rund um den Hafen der Insel und geht weiter hinein in die Stadt, so erreicht man schon bald die wahre Seele der Insel. Hoch über den Dächern der Stadt streben die mächtigen, aus grauem Stein gebauten Mauern der großen Festungsburg empor, in deren Inneren der alte ehrwürdige Ritterorden der Silberschlange sein Hauptquartier hat.

Einst von Lord British als Anerkennung für die besonderen Dienste des Ordens auf der Isle of Deeds östlich der Spitze des Cape of Heroes erbaut, stand dieses mächtige Bollwerk noch immer auf den nun kargen Felsen der Insel als lebendiges Symbol für das Prinzip des Mutes und für alle, die dafür kämpfen. Hier lag das militärische Trainingszentrum des Landes, hier bildeten die besten Kämpfer des Landes, in der Regel grauhaarige Veteranen neue Rekruten aus, die auf den inneren und äußeren Trainingsarealen der Burg ihre Kampffähigkeiten in Angriff und Verteidigung verbesserten - Waffenkameraden mit gleicher Denkweise, die Ehre und Mut miteinander teilten.
Hier hütet man mit der „Ewigen Flamme und Glocke des Mutes“ zwei wichtige Symbole von sehr hohem Wert. Und hier bekam der Besucher der Festung ein wirkliches Gefühl dafür, was ritterliche Tugenden ausmacht. Solange diese Festung auf Serpent’s Hold stand, würde sich das Land Britannia selbst verteidigen und jeden Angriff von außen abwehren.


Gleich neben den äußeren Trainingsarealen befand sich die Sacra Infermeria, wo sich eine kleine Schar Heiler um die Verpflegung kleinerer und größerer Wunden kümmerte, die sich die Kämpfer beim Training zuzogen. Ein schmaler Gang führte am Ende des Krankensaales hinauf auf das Dach zu der großen Bibliothek. Das schwere, eiserne Portal wurde gesäumt von zwei sitzenden Greifenstatuen, die auf den Besucher herabschauten, der die große Halle dahinter betrat, die das Herz der Bibliothek bildete.
Zahlreiche Räume, die von der Halle abgingen, waren gefüllt mit Regalen, Fächern und Ablagen, bestückt mit in Leder oder Linnen gehüllten Papyri. Viele hunderttausend Schriftrollen wurden in diesen Räumen aufbewahrt, hier fand sich die größte Ansammlung an original verfassten Manuskripten sowie die genaueste Kopiensammlung der britannischen Welt.

In diesem pulsierenden Herzen der Bibliothek herrscht großes Treiben. Diener eilen unter Aufsicht umher, besteigen Leitern und tragen die Papyri herbei, um sie den Wissensdurstigen vorzulegen. Lehrmeister wandeln mit ihren Schülern die Gänge zwischen den Regalen entlang. Besucher und sonstige Weisheitsliebende sind in den zahlreichen Schriften vertieft und hier und da finden sich auf den Bänken in den Nischen der Wände einige gelehrte Männer und Frauen, die leise mit einander disputieren.
Doch desgleichen wird sorgfältig darauf geachtet, dass niemand die kostbaren Werke beschmutzt, zerstört oder gar raubt. Denn in jenen Hallen liegen große Schätze wie die gesammelten Werke des Aristoteles in seiner Originalhandschrift, ebenso Niederschriften der homerischen Dichtung und viele weitere Raritäten. Seit der Protektion unter Sir Roland de Tréguier, dem jetzigen Kaplan des Ordens der Silberschlange gedeiht die Bibliothek, sammelt aktiv Wissen und Schriften aus aller Welt.
Im sogenannten Armarium, einem extra abgeteilten Raum, der sich auf der Ostseite befand und zu dem nur der Kantor des Ordens Zutritt hatte, lagert das kostbarste Schriftgut in den Wandnischen - auf Vellum* beschriebene Manuskripte sowie kostbare handbeschriebene und dicke, in Leder gebundene Bücher und Folianten.
Der Raum blieb meist verschlossen, und nur eine brennende Kerze davor zeigte an, dass der Kantor da war und sich darin aufhielt. Und diese brannte gerade.
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* Vellum ist eine feine Pergamentart, die aus Haut von Kälbern und Kälberföten gewonnen wird. Vellum ist teurer, aber lichtbeständiger als andere Pergamentarten und wurde für hochwertige Manuskripte sowie in der Malerei verwendet.
 

Mac Mahon

Schüler
Vater der Meere

Sir Roland de Tréguire, amtierender Kaplan des Ordens der Silberschlange saß an seinem Schreibpult und übertrug das Protokoll einer Ältestenratssitzung in die dafür vorgesehenen Bücher. Er war immer bemüht, diese Arbeiten gleich zu erledigen, denn wenn man das nicht tat, wurde schnell das Wichtigste vergessen. Als Schreiber und Chronist des Ordens oblag es ihm, nicht nur der Krone in Britain, sondern auch dem Großmeister der Gilde Rechenschaft über die Ordensaktivitäten abzulegen und genauestens festzuhalten. Die letzten Amtssitzungen des Rates waren etwas zäh gewesen, es gab auch nichts Wesentliches zu berichten, und so gestaltete sich die Reinschrift des letzten Protokolls etwas zäher als sonst. Er lehnte sich kurz zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen.

"Höre mich, Poseidon, Umuferer, finstergelockter
Tummler der Rosse, in der Hand den erzgebildeten Dreizack!"*


Sir Roland war nicht allein in dem kleinen Raum. Aus einer Nische im Raum erklang die sanfte Stimme einer Frau und riss ihn kurz aus den Gedanken. Eine seiner Schülerinnen saß dort mit einer alten Schriftrolle und bemühte sich, den Text ohne Fehler vorzulesen. Ihre klare aber wohltönende Stimme hallte leicht in dem kleinen Raum wieder und verstärkte den eigenartigen Singsang der antiken Sprache noch. Sie hatte erst vor kurzem damit angefangen, solch alte Texte zu lesen. Eine Überraschung für den Kantor, waren solche Texte schon für Geübte nicht einfach zu lesen. Was Nea’Naleen in der Hand hielt, nannte man die Orphischen Hymnen, einer Sammlung von relativ kurzen Texten von sechs bis dreißig Versen mit überwiegend anrufendem Charakter antiker Gottheiten die dem Musaios, dem sagenhaften Schüler des Orpheus gewidmet worden war. Sir Roland hielt seine Augen weiter geschlossen und verlor sich in ihrer Stimme.

„Der du die Gründe bewohnst in der weitgebrüsteten Meerflut,
Herrscher des Meeres, im Gebraus dumpfrauschender, Ländererschüttrer,
Reich des Gewoges, holdblickender du, hinjagend das Vierspann;
Der du im Meerorkan‘ emportürmst salzige Wasser;
Der du zum dritten Teile gewannst tiefwallendes Weltmeer,
An dem Gewoge dich erlabend und Wild‘, erhabener Dämon!
Schirme die Erdgrundveste und die glücklich laufende Schiffahrt;
Friede, Gesundheit bringe, und reichliche Fülle des Segens!

Höre mich, Poseidon, des Zeus erhabener Sprößlings,
Vater der himmlischen Götter, der seligen, Vater der Menschen!
Der du der oberste wohnst auf dem Scheitelhaupt des Olympos,
und nach Zeus der zweite gewannst allwärts zu gebieten,
Tummler der Rosse, in der Hand den erzgebildeten Dreizack,
Weite Gewalt, holdblickender du, hinjagend das Vierspann.
O allmächtiger Fürst, du heiligster, glänzender Ehre,
Ernster Feierer froh und geheiligter Gottesverehrung,
Gnädig erscheine, und verheiße glückseliges Los den Geweihten.“ *


Es hätte ewig so weitergehen können. Er hatte sich sogar für einen Moment gestattet, vor sich hinzuträumen und erschrak dann leicht, als er es bemerkte. Als geistiges und philosophisches Oberhaupt des Ordens und somit Ansprechpartner in Fragen ebendieser Art galt er als Verkörperung der Tugend der Geistigkeit und war somit Vorbild für alle, die nach Ausgewogenheit und innerer Aufgeklärtheit verlangten.
Sir Roland öffnete ein wenig die Augen und sah zu Nea’Naleen hinüber. Er bedauerte es fast, dass der Orden noch immer eine reine Männergesellschaft war. Die junge Frau hätte einen guten Kaplan abgegeben, war sie doch stätig bemüht, nach den Grundsätzen des Ordens zu leben, ihr inneres Selbst zu verbessern und das Leben anderer schon allein durch ihr Dasein zu erfreuen. Sir Roland erinnerte sich noch gut an den Tag, als ein alter Druide aus Yew, deren Namen er vergessen hatte, sie und ihre Schwester Ena‘Enyat als kleine Mädchen auf die Insel gebracht hatte. Während Nea, die jüngere eher still und fügsam war, gerne las und in der Heilerstube Kräuterkunde lernte, entwickelte die ältere Ena mehr eine Vorliebe für alles Magische. Was beiden aber gemeinsam war, war die Liebe zu alten Geschichten.
Da man die Mädchen nicht im Konvent unterbringen konnte und er als Ordensoberster bereits seine Gelübde abgelegt hatte, hatte sich Meister Ilverin, ein älterer Elf unbekannten Alters aus Yew sich ihrer angenommen und ihnen ein Zuhause auf der Insel gegeben. Aber es war keinem verborgen geblieben, das Sir Roland de Tréguire – vielleicht auch aus einer Trotzhaltung heraus - gerade deshalb sehr väterliche Gefühle für die beiden Mädchen hegte.

Während es Ena später mehr in die Welt zog, blieb Nea auf dem kargen Felsen der Festungsinsel zurück, vervollkommnete ihr Wissen über die Tugenden und Prinzipien sowie über andere ethische Lehren. Heller an Geist und getrieben von einem unglaublichen Wissensdurst hatte er ihr als einzige erlaubt, sein Allerheiligstes zu betreten, damit sie ihre Studien weiter vertiefen konnte.

„Sir Roland? Glaubt ihr wirklich, dass Poseidon der alleinige Herrscher des Meeres ist? Was ist mit den Flüssen und Seen?“
„Mhmmmm….?“ Die Frage der jungen Frau ließ den Kaplan wieder in die Wirklichkeit kommen.
„Ja… die Flüsse und Seen. Was ist mit ihnen. Wo kommen Sie her? Poseidon hat sie nicht erschaffen.“
„Das ist richtig, das hat er nicht, aber es gab Okeanos.“
„Okeanos? Wie der Ozean?“ Sir Roland nickte leicht.
„Ja, wie der Ozean. Und davor gab es noch Pontos, den eigentlichen Urgott des Meeres. Ihn kennen die wenigsten.“
„Und Pontos zeugte Okeanos, und der dann Poseidon?“ Als Nea fragend zu ihm hinüber sah und er kopfschüttelnd, aber lächelnd zurückblickte, sagte sie dann fast anklagend:
„Warum nur ist griechische Mythologie so kompliziert?“
Sir Roland lachte nun. Er legte den Federkiel aus der Hand, mit dem er geschrieben hatte und steckte ihn in das Tintenfass auf seinem Pult zurück.
„Weil, mein schönes Kind, die Griechen damals zahlreiche Götter verehrt haben. Allerdings hatten diese keine Allmachtstellung, sondern man schrieb ihnen vielmehr menschliche Eigenschaften und Verhaltensweisen zu. Die Mythologie der griechischen Götter besteht in der Hauptsache aus Lieben und Geliebt werden, und da die Götter auch Liebesbeziehungen mit ihren Geschwistern, eigenen Kindern sowie mit Sterblichen hatten, macht es das für uns unübersichtlich und kompliziert. Aber da sie auch Eigenschaften hatten, die bei den Menschen zu Schimpf und Schande führten – Ehebruch, gegenseitiger Betrug und Diebstahl – waren sie für die Menschen leichter verständlich.“
Sir Roland erhob sich, ging zu einer der Nischen und zog einen alten Papyri heraus, den er sorgfältig, um ihn nicht zu beschädigen auf seinem Pult ausbreitete. Die junge Frau kam neugierig näher und betrachtete nun die Zeichnung eines Stammbaumes.

„In der griechischen Mythologie gibt es mehrere Erzählungen vom Anfang der Dinge. Eines der ältesten stammt von dem Dichter Homer, aber auch diese hier nahm großen Einfluss auf die Götterwelt. Schau her“, sagte der Kaplan nun,
„das ist die „Theogonie“ des Hesiod. Dieser nach den Dynastien und den Olympiern. Pontos ist das Urmeer, das von der Erdgöttin Gaia aus der Verbindung mit dem Chaos geboren wurde. Dann vermählte sich Gaia mit Uranos, dem Himmel und sie zeugten die zwölf Kinder, die Titanen. Diese bildeten wiederum Paare, und so vermählte sich Okeanos, den Homer als „Ursprung von allem“ nannte, mit seiner Schwester Tethys.
Kein Gott des Meeres, sondern vielmehr eher ein Gott der Flüsse, Herrscher über die ursprüngliche Kraft, die dem Lebensquell Wasser innewohnt, das uns und alle Lebewesen durchfließt. Es heißt, dass er in der Unterwelt entspringt und die Welt umschlingt als ein begrenzender, ewig bewegter Strom mit unerschöpflicher Zeugungskraft. Doch war Okeanos kein gewöhnlicher Flußgott, da sein Strom kein gewöhnlicher Strom war. Nachdem alles aus ihm seinen Ursprung genommen hat, fließt er immer noch, am äußersten Rand der Erde in sich zurück. Die Flüsse, Quellen und Brunnen, ja das ganze Meer, alles entspringt seinem breiten starken Strom. Als Zeus die Herrschaft der Welt übernahm, war Okeanos der Einzige, der an seinem alten Ort bleiben durfte, den er war ja nur Strömung, Umgrenzung und Abtrennung des Diesseits vom Jenseits.“

Der Kaplan machte eine kurze Pause, um sich zu vergewissern, dass seine Schülerin ihm folgen konnte, aber die war bereits aufgestanden und hatte, während sie ihm weiter zuhörte, den Papyri wieder in die Hand genommen, aus dem sie ihm vorgelesen hatte. Geschickt rollte sie ihn soweit ab, bis sie an eine weitere Textstelle in den Orphischen Hymnen kam, wo sie stoppte und sich kurz sammelte. Wieder erfüllte der Klang ihrer vollen, klaren Stimme den kleinen Raum des Armariums.

„Dich, Okeanos preise ich, den endlos waltenden Vater,
Aller unsterblichen Mächte Ursprung, und sterblicher Menschen,
Welcher rings umflutet der Erde umgrenzende Kreisung,
Dem auch all entfließen die Ströme und Fluten des Meeres,
Und aus der Erde Abgrund aufsprudelnde heilige Quellen.
Höre, in der Seligkeit Fülle, erhabenste Sühne der Götter,
Freundliche Grenze des Landes, Polanfang, wandelnd auf Wassern,
Nahe dich huldreich stets und gefälligen Sinns den Geweihten!“ *

Ein Sonnenstrahl fiel durch die Scheiben in das kleine Zimmer und auf Nea’s Gesicht, das nun förmlich erstrahlte. Ihre Augen strahlten, und der tiefe unschuldige Blick aus diesen blaugrünen Augen, die an das Meer erinnerten, ließ einen nicht unbeeindruckt. Nicht zum ersten Male wurde Sir Roland bewusst, das aus dem kleinen Mädchen, das er in seine Obhut genommen hatte, nun eine schöne, junge Frau geworden war. Vor ihm saß eine zu Fleisch gewordene Göttin, ein Abbild der Göttin Tethys, die ihren Okeanos noch nicht gefunden hatte – oder hatte Okeanos Tethys noch nicht gefunden?
Sir Roland runzelte kurz die Stirn, als er diesen kleinen Anflug väterlich anmutender Eifersucht bemerkte. Nein, er wollte nicht, dass diese „Tochter“, die er so zärtlich liebte, sich in irgendeinem Ozean verlor, der sie verschlang und nicht wieder hergab. Wäre er ein einfacher Mann und nicht gerade Kaplan gewesen und hätte die Gelübde noch nicht abgelegt, bei den Göttern – wie gerne wäre er dieser Ozean gewesen! Mit wem hätte Okeanos der „Ursprung von allem“ sein können, wenn in seiner Person nur ein männlicher Urstrom dagewesen wäre und keine empfangende Ur-Wassergöttin mit ihm?
Vielleicht war es nur gut, dass dieses Ur-Paar sich schon lange getrennt hatte. In den uralten Erzählungen hieß es, es wäre aus Zorn aufeinander geschehen, aber Sir Roland glaubte eher, dass es mehr aus den Gründen der Vernunft geschah.
Gemeinsam galten die beiden Titanen als Eltern der Potamoi und der Okeaniden, der vielen Flußgötter, Quell- und Brunnennymphen. Hätte die Urzeugung nicht aufgehört, so gäbe es keine Grenzen, kein Kreislauf würde in sich zurückkehren und die Welt keinen Bestand haben.
Irgendwie waren sie sich verdammt ähnlich, dieser Gott und er, wie Sir Roland jetzt wieder feststellte. Wie dem Gott blieb ihm nur die Strömung im Kreise, das Nähren der Quellen, der Flüsse und des Meeres - und die Unterordnung unter die Macht des Zeus, der hier auf der Isle of Deeds das Gesicht eines Sir Robert Pendaran hatte.

Ein leises Räupern erklang, und ließen den Kaplan und seine Schülerin gleichermaßen dort hinschauen. Ein der jüngeren Knappen stand dort verlegen in der Türschwelle und nagte verlegen an seinen Lippen herum.
„Nun, was gibt es?“ entfuhr es dem Kaplan etwas barscher, als es normal der Fall war.
„Sir, Meister Ilverin benötigt Hilfe und schickt nach der Dame Nea. Er braucht für einen Patienten zwei ganz besonders sanfte Hände“ stammelte der Knappe erschrocken.
Bevor Sir Roland etwas sagen konnte, hatte Nea den kostbaren Papyrus bereits wieder sorgsam zusammengerollt und ihn auf den Tisch abgelegt, vor dem beide gestanden hatten.
„Sagt Meister Ilverin, ich bin gleich da. Ich gehe mich nur rasch umziehen, dann komme ich. Bitte verzeiht, Sir Roland, ich fürchte wir müssen unsere Studien nun hier abbrechen. Aber die Kranken gehen vor.“
„Dann lauf rasch und lass den Meister nicht zu lange warten.“ Der Kaplan blickte in das strahlende Gesicht seiner Schülerin und nickte kurz verständnisvoll. Nea’Naleen lächelte fröhlich und lief aus dem Zimmer.

Das Geräusch raschelnden Papieres lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf den Tisch zurück. Wie von Geisterhand gelenkt, hatte sich der alte Papyrus von selbst entrollt und enthüllte eine längere Textpassage, die den Blick des Kaplans magisch anzog. Sir Roland las die Worte, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein.

Preis des Okeanos Gattin, der meerblauäugigen Tethys,
Ihr in dunklem Gewande, der Königin schnellen Gewoges,
Welche die Erde umwallt mit lieblich wehenden Hauchen!
Die du zerschellst am Felsengestade hochtürmende Wogen;
Die du geruhig wallst bei sanften heiterem Laufe,
Und der Schiffe dich freust, Wildnährerin, wandelnd auf Wassern;
Mutter der göttlichen Kypris, und Mutter des finsteren Gewölkes,
jeglicher Quelle zugleich, voll sprudelndes Nymphengewässers!
Göttin, vernimm, hochherrliche, mich; hülfleiste du huldreich,
Fahrwind, Selige, sendend geradhinlaufenden Schiffen.*


Er sah nachdenklich auf. Es klang wie die Prophezeiung eines Orakels, von dem man jetzt noch nicht wusste, was es bedeuten würde … und für wen.

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* Die Hymnen des Orpheus: XVII - Poseidons Rauchopfer, LXXXIV - Okeanos Rauchopfer, XXII - Tethys Rauchopfer
- 1822 von David Karl Philipp Dietsch ins Deutsche nach griechischem Versmarsch übersetzt.

 

Mac Mahon

Schüler
Gefährliche Ladung

Der Lärm der Arbeiter auf der Mole drang durch ein geöffnetes Zimmer in der kleinen Amtstube des Hafenmeisters, in dem sich nach der Ankunft der „Silver Sirene“ drei wichtig aussehende Personen versammelt hatten. Sir Robert Pendaran, Großmeister des Ordens der Ritter der Silberschlange blickte mit finsterer Miene von den Dokumenten auf, die der Diplomat mitgebracht hatte und die nun vor ihm auf dem Tisch lagen.
Bart de Wever war seit fünfzehn Jahren Erster Sekretär der königlichen Admiralität. Davor war er Zweiter Sekretär gewesen, hatte sich aber schnell im Amt hochgearbeitet und Karriere gemacht. Durch die feingliedrigen Hände dieses Mannes ging die gesamte Korrespondenz der königlichen Admiräle und Kapitäne, von Mitgliedern der Räte in den Städten, von Ministern und Diplomaten und natürlich auch von Spionen seiner Majestät, das wusste auch der Großmeister. Niemand kannte sich also besser mit den Einzelheiten der königlichen Marine und ihren in den bekannten Gewässern Sosarias segelnden Flotten und Schiffen aus als wie dieser kleine, zerbrechlich wirkende Mann, der nun an einem Fenster der Amtsstube in der Hafenmeisterei stand, mit ineinander verschränkten Händen auf den Rücken und zusah, wie die Hafenarbeiter das Leergut von der „Silver Sirene“ abtrugen und in das nahe Lager rollten. Das Sonnenlicht, das matt durch das Fenster fiel, brach sich in den Gläsern der kleinen Brille, die auf seiner Nasenspitze sass und zeichnete dort einen kleinen Regenbogen auf seiner Wange ab.
„Seine Majestät ist im höchsten Maße entsetzt darüber, das ein solches Unglück, eine solche Katastrophe passieren konnte“, krächzte er mit kehliger, belegter Stimme.
„Der König brennt darauf zu erfahren, warum er nun eines seiner besten Schiffe abschreiben kann. Die Bestürzung darüber, dass der Stolz der königlichen Handelsmarine hier an den Serpents Pillar gesunken ist, ist nicht nur in der Hauptstadt sehr groß sein, sondern ruft derweil auch große Betroffenheit im Lande hervor.“
„Sehr bedauerlich, dass es ausgerechnet die „Ricochet“ treffen musste“, sagte Sir Robert nun und schob die Dokumente hinüber zu seinem Stellvertreter und bestem Freund, Sir Arnaud de Lascaris, der diese mit einem kurzen Brummen in der Stimme an sich nahm.

Auf einer durch die königliche Admiralität festgelegten Handelsroute wurden von der „Ricochet“ in regelmässigen Abständen die Städte Vesper, Britain, Trinsic und Serpent’s Hold angefahren und mit Gütern versorgt. Das Schiff war so gebaut worden, das es in wechselnden Wettern und Strömungen auch bei Starkwind noch viele Segel tragen und deshalb beachtlich schnelle Reisen auf See machen konnte.
Die Fahrt des prächtigen Seglers war zunächst ohne besondere Vorkommnisse verlaufen, nur in den windarmen Mallungen zwischen den Passatgebieten der Nord- und Südhälfte musste gerudert werden. Schiffe fahren nie in gerader Linie auf dem Meer, sie richten sich auf ihren Weg zwischen den Ausgangs- und Zielhäfen an die in weiten Bögen wehenden Passatwinde. Auf den vielen Reisen, in dem sie unter der königlichen Flagge gesegelt hatte, hatte die „Ricochet“ immer wieder heftige Stürme abgeschmettert, Segel und auch schon Anker verloren. Auch Tote und Unfälle gab es dann und wann zu beklagen: Männer, die aus dem Rigg* fielen, über Deck spülende See, die die Mannschaft mit sich riss, Überfälle durch Piraten und noch so einiges andere mehr. Nichts was anderen Schiffen nicht auch passieren konnte!
„Kapitän Russel galt meines Wissens als erfahrener Kapitän, der wusste wie man sich zu verhalten hat, wenn ein Sturm auf See aufzieht. Er hatte einen ausgezeichneten Ruf, und wenn man den hat, macht man nicht leichtfertig grobe Fehler. Ich will verdammt sein, wenn hier nicht noch andere Faktoren eine Rolle gespielt haben“, nahm der Großmeister den Faden wieder auf. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, setzte sich etwas bequemer hin und blickte den Diplomaten aus Britain erwartungsvoll an.
De Wever nahm nun seine Brille ab und betrachtete sie prüfend. Während er dann ein sauberes Taschentuch aus seinem Ärmel zog, die Gläser bedächtig putzte und weiter aus dem Fenster schaute, sagte er dann:
„Kapitän Russel war – wie wir schon seit einigen Jahren wissen, krank und wegen Nierenleidens in Behandlung. Er bekam, wenn die Schmerzen zu groß waren immer wieder zum Teil auch Hohe Dosen Morphium dagegen. Auf Dauer gesehen greift diese Droge auch den Verstand an; in diesem Zustand hat er schon öfter einige sehr schwerwiegende Entscheidungen getroffen, die nicht immer zum Besten der Reederei und der königlichen Handelsgesellschaft waren.“
Bart de Wever drehte sich nun vom Fenster weg, setzte seine geputzte Brille wieder auf die Nasenspitze, steckte das Tuch wieder in den rechten Aufschlag seines Ärmels und lehnte sich gegen den Fenstersims.
„Nun, meine Herren, nichts desto trotz wäre diesem Jahrhundertsturm wohl niemand entkommen, auch nicht der beste und und geschicksteste Kapitän.“
„Dieser Hurrikan war in der Tat ein kleines Biest“, merkte Arnaud de Lascrais an, während er die Dokumente aufschlug und etwas unwillig in ihnen rumblätterte.
“Erfahrungsgemäß drehen solche Stürme hier vor Serpent’s Holds nach Westen ab in Richtung Bald Island und Cape of Heroes, aber dieses Mal ist er scharf nach Norden ausgeschwenkt, bevor er dann wieder Kurs nordwest auf Trinsic genommen hat.“ De Lascaris lachte kurz grimmig auf, bevor er dann weitersprach:
„Wie eine spielende Katze, die sich für die Maus scheinbar nicht interessiert, sie aber weiter im Auge behält und dann doch erlegt. Dieses Biest hat uns alle getäuscht mit ihren jähen Kurswechseln – bricht den Kurs auf Trinsic plötzlich auch wieder ab, kommt in südöstlicher Richtung zurück und dann im rasenden Tempo auf Ostkurs direkt auf die Serpent’ Pillars. Wenn so eine Ausgeburt der Hölle Hunger hat, macht es auch vor dem Stolz der königlichen Handelsflotte keinen Halt. Aus Moonglow kam einen Tag später eine Nachricht, das dieses Monster als gewöhnlicher Sturm die Insel erreicht und sich dort ausgeweht hat.“
De Wever nickte nur kurz und nahm das zur Kenntnis. Nach einem kleinen Moment fuhr er dann fort:
„Wie sich dann weiter herausgestellt hat, bestand die Besatzung der „Ricochet“ überwiegend aus einer noch sehr unerfahrenen Mannschaft - jungen Männern, die alle noch nicht über zwanzig Jahre alt waren und dort auf dem Schiff ausgebildet werden sollten“, erklang die kehlige Stimme des Diplomaten wieder.
De Lascaris hatte sich mittlerweile durch den Stapel Dokumente gewälzt, den der Diplomat mitgebracht hatte. Er sah nun auf und warf dem Großmeister bedeutungsvolle Blicke zu.
„Nun, das ist schlimm genug. Wer das Schiff kennt, weiß aber auch, wie alt die „Ricochet bereits war, und wie sehr der Zahn der Zeit an der alten Dame genagt hat“, bemerkte de Großmeister etwas gedankenverloren. Pendaran rückte den Stuhl, auf den er saß etwas vom Tisch ab und setzte sich nun fester und bequemer hin, um den weiteren Gespräch folgen zu können.
„Ja, und noch schlimmer ist, wenn der Schiffseigner, der so ein Prachtschiff für den Handel von Wolle, Getreide und sonstiger Güter unterhält kein Geld mehr hat, die notwendigsten Reparaturen durchzuführen. Oder war es schlicht und einfach nur Geiz? Wenn ich mich nicht irre, lag die „Ricochet“ doch vor kurzem noch auf Reede in den Docks von Vesper und sollte dort abgewrackt werden, bevor sie – natürlich so billig wie möglich generalüberholt und aufgehübscht, in eine höhe Schiffsklasse eingruppiert wurde? War es dann nicht auch so, das die Krone das Schiff für läppische 120.000 Goldstücke wieder zurückgekauft hat – als Ausbildungsschiff für den Offiziersnachwuchs?“

Arnaud de Lascaris hatte sich fast in Rage geredet. Er sass nun aufrecht in seinem Stuhl, die Dokumente fast anklagend in der Hand haltend und sah den Diplomaten nun herausfordernd an.
„Das ist alles korrekt was Ihr sagt, Sir de Lascaris, aber wenn ihr noch weiter gelesen hättet, wüsstet Ihr auch um den wahren Grund warum die Ricochet gesunken ist.“
Bart de Wever konnte nicht verhindern, das ihm aufgrund des etwas angriffslustigen Tones des kurz der Mundwinkel zuckte und er leicht mit den Zähnen zu knirschen anfing.
„Nun, der da wäre?“ Sir Pendaran legt beschwichtigend eine Hand auf den Arm seines Freundes und warf diesem einen warnenden Blick zu, als Zeichen den kleinen, streng wirkenden Mann nicht noch mehr zu reizen.
„Die Ladung, meine Herren. Der wahre Grund war die Ladung. Wir wir mittlerweile wissen, wurde in Britain zunächst Salpeter auf den Dreimaster geladen, das zur Verteidigung der Festungsinsel bestimmt war. Soweit sich dann der Weg zurückverfolgen läßt, kam in Trinsic noch eine Ladung Getreide hinzu, um die Verpflegung des Ordens und der Bewohner von Serpent’s Hold aufrecht zu erhalten. Einer meiner Verbindungleute aus Trinsic hat einen Brief des Kapitäns an Mary Russel abgefangen, in dem er folgendes angibt.“
De Wever rückt nun seine Brille zurecht, als er zum Tisch ging und den Stapel der Dokumente für einen Moment durchsuchte, bis er zwei handgeschriebene Briefe in der Hand hielt, die er schnell überflog.
„Ah, hier haben wir es. Von Kapitän Russel an seine Frau Mary in Vesper“ Er räusperte sich kurz und hustete.

„Liebste Mary,

Das Schiff ist trotz seines Alters ein besseres Schiff als jeder Neubau, und die Reise hat mir viel Freude gemacht. Ich freue mich schon bald nach Hause zu kommen, aber du musst dich noch eine Weile gedulden Wir liegen in Trinsic fest, wo ein Streik die Ladearbeiten verhindert. Das Militär besetzt den Hafen, da das Volk, erneut ohne feste politische Führunn gegen alle Ordnung rebelliert und seinen Pflichten nicht nachkommt. Nun soll demnächst auch mit ein bißchen Schießerei geklärt werden, wer wieder mal Recht behält. Die letzten vier Tage haben wir mit den Jung‘s die Ladung übergenommen und getrimmt, eine Sauarbeit in Doppelschichten‘…


Er legte den Brief wieder zurück und zog dann einen anderen aus dem Stapel.
„Soweit Kapitän Russel. Ein weiterer Brief, der das bestätigt kommt von einem der Jungen, die auf dem Schiff waren. Hier schreibt er nach Hause:

„Acht Stunden verrichten wir jetzt Arbeit, die sonst meist nur von ehemaligen Zuchthäuslern ausgeübt wird. Meine Lungen sind voll Getreidestaub, und die Augen kann ich kaum noch aufhalten, so geschwollen sind sie… Die elf Goldstücke auf die Hand jeden Abend sind das einzige das, uns davon abhält, öffentlich dagegen zu protestieren.“


„Das heißt, dass Kapitän Russel sich selbt um das Verladen seiner Ware kümmern musste? Man kann doch nicht erwarten, dass sich ein Kapitän mit den Verladevorschriften von Transportgütern auskennt. Das ist Sache eines Kontormeisters oder Lagervewalters. Was für Getreide hatte die Ricochet geladen?“
„Gerste. Und zwar überwiegend geschüttet und nicht in Säcken verpackt“.
Bart de Wever legte die Briefe wieder zurück auf den Packen Dokumente, schob den Stapel nun zusammen und in eine große Ledermappe, die er dann sorgfältig verschloss.
Sir Arnaud de Lascaris wurde so von dieser Aussage überrascht, dass er sich brüsk von der Tischkante abstieß und mit seinem Stuhl ein hässlich knarzendes Geräusch auf den kalten Steinfliesen verursachte. Er sah kurz zu dem Großmeister hinüber, ob dieser hierzu etwas sagen wollte, aber Pendaran presste nur stumm die Backenzähne aufeinander, um vor Ärger nicht laut loszubrüllen. Sir Arnaud beugte sich auf seinen Stuhl nun leicht nach vorne.
„Gerste in Bulk verladen sagt ihr? Ist das absolut sicher?“
Als der Diplomat dies durch ein kurzes Nicken bestätigte, fuhr er fort:
„Geschüttetes trockenes Getreide „fließt“ wie Wasser, wenn das Schiff in schweren Wettern rollt. Wenn man hier die Schüttwinkel nicht beachet oder loses Getreide nicht noch zusätzlich mit voll bestückten Säcken überstaut, kann das sehr schnell zum Übergehen der Ladung führen und damit zu einseitiger Gewichtsverlagerung. Die Körner sind so glatt, das sie sich durch die kleinste Erschütterung schon von selbst umlagern, auch wenn man die Laderäume weitestgehend füllt und die Oberfläche ebentrimmt. Trotzdem glaube ich nicht, dass schon alles gewesen sein kann. Schwerer Seegang und eine Ladung die vorschriftsmässig in die Lagerräume eingebracht wurde, bringen ein Schiff nicht so schnell zum Kentern.“
„Demzufolge kann man den Kapitän also nichts vorwerfen.“
De Wever blickte den Großmeister über den Rand seiner Brille an und musterte ihn kurz.
„Ihr irrt, wenn ihr das glaubt, Sir Pendaran. Aufgrund der Verantwortung für das Schiff und für die auf ihn dienenden Menschen hat er sehr wohl Kenntnisse über bestimmte Sicherheitvorkehrungen zu haben und zu beachten. Da Kapitän Russel nun nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden kann, wird sich der Gouverneur von Trinsic vor der Reederei und den König zu verantworten haben.“
Sir Robert Pendaran lachte bitter auf.
„Von welchem Gouverneur redet ihr? Zuletzt hörten wir von einem Fürsten, der offensichtlich nichts anderen im Sinne hatte als seine Vorgängerin unrühmlich zu beseitigen, nur um sich dann höchst unrühmlich selbst wieder vom Acker zu schleichen als die Lage in der Stadt brenzlig wird. Trinsic ist sozusagen ohne nennenswerte Führung wo das Volk macht was es will. Ich kanns den Leuten nicht verdenken, das sie aufbegehren. Wieviele ehrlose Fürsten und sonstiges machthungriges Gewürm wird diese Stadt, die man einst Stadt der Ehre nannte noch ertragen wollen? Oder wisst ihr bereits von einem Nachfolger?“
„Nun die nächsten Wahlen stehen an, es gibt mehrere Bewerber für das Amt. Und zum jetzigen Zeitpunkt ist ein Name, auch der eines Nachfolges völlig unrelevant. Es sollte jedem bewusst sein, welche Verpflichtungen er mit der Übernahme eines solchen Amtes eingeht. Es ist liegt in der Verantwortung eines jeden Gouverneurs, für Sicherheit und Ordnung in seiner Stadt zu sorgen, und im Fall der „Ricochet“ war dieses vorhanden, was indirekte auch zu ihrem Untergang geführt hat. Da es jetzt keinen Gouverneur in Trinsic gibt, wird es der nächste sein, der diese höchst vertrauliche Angelenheit aufzuklären hat. Und was nun genau auf dem Schiff passiert ist, wird eine noch abzuschließende Untersuchung hier vor Ort zeigen. Wie mir zu Ohren gekommen ist, gibt es einen Überlebenden?“
De Wever hatte mittlerweile die dicke Ledermappe mit den Dokumenten unter dem Arm geklemmt und zeigte deutliche Anzeichen, das er nun genug von dem Gespräch hatte. Sein Blick ging zunächst auf De Lascaris, dann auf den Großmeister. Pendaran nickte kurz.
„Den gibt es in der Tat. Vor wenigen Tagen hat hier ein kleineres Handelsschiff angelegt, die „Purple Diluvian“, die ihn auf offener See in einem schwer beschädigten Ruderboot aufgelesen hat, nachdem es auf die Trümmer der „Ricochet“ gestoßen war. Sein Gesundheitszustand ist nicht gut, unsere Heiler kümmeren sich noch darum, ihn wieder vernehmungsfähig zu machen. Er verweigert noch jede Ausskunft, und Meister Ilverin sagt, es es daran läge, das nicht nur der Körper gelitten hat, sondern wohl auch die Seele. Für mich ist das ein wahres Wunder, das man ihn überhaupt gefunden hat.
„Ja… preisen wir – wen auch immer.“

Die Stimme des Diplomaten klang müde, und De Wever unterdrückte dezent ein Gähnen Es war ihm deutlich anzumerken, das ihm diese Untersuchung schon in Britain einige schlaflose Nächte gekostet hatte, die nun ihren Tribut forderten.
„Ich für meinen Teil werde nun denjenigen preisen, der mir ein gutes Essen und ein weiches Bett bietet. Sie sorgen mir dafür, dass der Patient in zwei Tagen vernehmungsfähig ist. In einer Woche möchte ich das Verfahren abgeschlossen wissen und so bald wie möglich mit dem nächsten Schiff nach Britain zurückfahren. Sie finden mich für alles Weitere im „Broken Arrow Inn“.

De Wever griff nach seiner Mütze, und mit dieser in der Hand und der Dokumentenmappe unter dem Arm geklemmt, verließ er die kleine Amtstube nun, zwei alte grauen Ritter des Ordens der Silberschlange hinter sich lassend und froh darüber endlich wieder frische Luft atmen zu können.

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*Rigg = Gesamtheit der Takelage
 

Mac Mahon

Schüler
Von Fleuten und Flauten

Auf der „Silver Sirene“ war es nun ruhig geworden, der Lärm auf dem Schiff hatte merklich nachgelassen. Für Gavin MacDaragh, Kapitän der „Silver Sirene“ das untrügliche Zeichen, das alle leeren Wasser- und Proviantfässer nun abgeladen und in die Lagerhäuser gebracht waren, die sich direkt an an den nördlichen Docks von Serpent’s Hold befanden. Die Arbeiter hatten ihren Dienst getan, und seine Offiziere und Seeleute trieben sich nun irgendwo auf der kleinen Festungsinsel herum und vergnügten sich. Er klappte das dicke Logbuch zu, nachdem er seinen Tagesbericht nun endlich erledigt hatte, verschloss es sorgfältig zusammen mit Feder und Tinte in einem kleinen Sekretär und verließ gut gelaunt seine Kabine und sein Schiff.

Fröhlich eine kleine Melodie summend, schlenderte er an am Kai entlang, bis er den „Dog and Lions Pub“ seines alten Freundes Linco Pichol am Hafen erreichte. Nach den kargen Essen der letzten Tage auf See freute er sich schon darauf, wieder einen etwas anderen Geschmack zu spüren. Was gutes Essen anging, war Marie Pichol eine kleine Künstlerin, die aus den meist wenigen Zutaten, die man auf der Insel bekommen konnte, ein Feuerwerk für den Gaumen zaubern konnte.
Der Duft guten Bratens aus Marie’s kleiner Küche, die an den Schankraum des Pubs angrenzte, drang durch das geöffnete Fenster, was den Kapitän nur noch hungriger machte. Auf dem kleinen Rasenstück hinter dem Pub hatte Linco noch weitere Tische und Stühle gestellt. Linco selbst wuselte um zwei Herren herum, die dort bereits Platz genommen hatten und sich angeregt, mit einem Krug guten Weines vor sich, untererhielten. Als der Wirt dann zurück auf den Weg in die Küche war, hätte er Gavin beinahe umgerannt. Linco wollte schon über den vermeintlich ungeschickten Trottel lospoltern, da erkannte er wen er vor sich hatte.

„M’sieur le Capitaine!“ rief er erfreut.
“ Welch große Freude, welche neuerliche Ehre, Euch zu sehen. Isch ‚offe, Ihr seid wohlauf, gesund, ‚ungrig oder gar durstig? Was darf isch Euch bringen? Wir ‚aben Fisch und ‚ühnchen… und guten Wein aus Yew – für gute Freunde! Na was sagt Ihr, Capitaine mache isch Euch Appetit?“
Gavin MacDaragh hatte leichte Mühe, den so in Fahrt gekommenen und über sein Erscheinen begeisterten Wirt etwas zu beruhigen. Er griff Linco kurzerhand an den Schultern und drückte diesen herzlich an sich.
„Na und ob ich Appetit habe, wenn du mir den Mund so wässrig machst. Marie’s Braten riecht man von weitem auf dem Schiff. Und Wein aus Yew klingt hervorragend. Ich nehme das.“ Gavin lachte.
„Mein Bruder scheint wohl schon da zu sein. Ich erhielt seinen Brief vor einigen Wochen, das er von Jhelom rüberkommt, um hier seine Geschäfte zu erledigen.“
„M’sieur Dylan? Ah, mais oui, regardez-là capitaine, er ist schon eine Weile ‚ier.“ Linco zeigte auf die beiden Männer, die er eben noch bedient hatte.
„Da sitzt er - abend für abend – und macht nicht nur meine Marie verrückt, sondern auch meine Schwester!“
„Louise?“
„Oui, Louise – kriegt nichts mehr zustande, seit er hier ist. Dieser Charmeur bricht noch ihr ‚erz“ jammerte Linco gespielt theatralisch. Gavin schmunzelte wieder. Sein jüngerer Bruder hatte tatsächlich den lebhaften Charme und das Aussehen ihres Vaters geerbt, während er mehr nach der Mutter kam. Dylan hatte irgendwann das gut gehende Handelsgeschäft des Vaters in Britain übernommen, während es Gavin doch mehr zur See gezogen hatte. Und obwohl Dylan ein beständigeres Leben führte als Gavin, waren beide noch unverheiratet geblieben.
„Ich sehe schon, ich muss hier wieder jemanden an seine gute Erziehung erinnern.“ Gavin zwinkerte Linco zu, und beide lachten dann wieder.

Während Linco danach in die Küche eilte und seiner Frau die Bestellung aufgab, steuerte Gavin auf den kleinen Tisch zu. Als er näher kam, sah einer der Männer auf.
„Hier haben wir ihn ja schon, den Schrecken aller Meeressäuger südlich der Serpents Pillar. Gestattet, dass ich Euch meinen Bruder vorstelle, Gavin MacDaragh, Kapitän des Walfängers „Silver Sirene.“
Dylan MacDaragh strahlte über das ganze Gesicht. Er hatte seinen älteren Bruder seit Monaten nicht gesehen, und freute sich nun, dass er endlich wieder vor ihm stand.
„Gavin, das ist Wouters van Blesius, Kapitän der „Purple Diluvian.“
„Ah, dann gehört Euch also das nette kleine Schiff neben meiner „Silver Sirene“. Gavin zog einen der freien Stühle heran und setzte sich dann zu den beiden an den Tisch. Während er sich dann Wein aus einer von Linco bereitgestellten Karaffe in ein Glas goss, bemerkte er wie beiläufig:
„Ihr habt wirklich einen netten kleinen Dreimaster unter Eurem Befehl, das muss ich schon sagen. Wenn meine alten Augen mich nicht täuschen, ist dies noch eine Fleute in sehr ursprünglicher Bauweise?“
„Euer Blick ist bemerkenswert scharf, Kapitän. Allerdings ist sie nicht ganz so hochseetauglich wie Eure Pinasse.“

Wouters van Blesius nickte anerkennend und lächelte. Er nahm einen genießerischen Zug aus seiner Pfeife, während die drei Männer weiter auf die im Dock liegenden Schiffe des kleinen Hafenbeckens schauten. Als Gavin wieder auf seinen Bruder schaute, musste er über dessen Gesichtsausdruck schmunzeln. Dylan sah leicht verwirrt aus. Als der Kauffmann, der sein Bruder war, kannte sich dieser mehr mit dem Verladen von Ware auf Schiffen aus als mit den Feinheiten in der Bauweise. Dylan’s Kenntnisse in der Schiffsbaukunst reichten gerade soweit, dass er ein Handelsschiff gerade noch von einem Kriegsschiff unterscheiden konnte, aber das würde sein Bruder natürlich niemals zugeben. Dylan versuchte, mit einem möglichst intelligent aussehenden Gesichtsausdruck, seine momentane Unkenntnis zu verbergen. Aber Gavin wusste wohl, dass sein Bruder sich gerade merklich unwohl fühlte. Wären sie beide nun allein gewesen, hätte er sich einen Spass daraus gemacht, seinen Bruder wie gewöhnlich damit aufzuziehen, aber nun hier vor Kapitän van Blesius wollte er ihm diese Blöße ersparen. Nach einer kleinen stillen Weile nahm Gavin MacDaragh deshalb das Gespräch wieder auf.
„Ein wirklich hübsches kleines Schiff, Kapitän van Blesius. Und es verbirgt mehr als uns bewusst ist. Dank ihres hohen Gebrauchswertes sieht man sie nun immer öfter auf den Meeren hier kreuzen.“
Wouters van Blesius griff nach seinem Bierkrug und nahm einen gemächlichen Schluck. Er lächelte wieder und wandte sich nun Gavin zu.
„So ist das – in der Tat. Die Ingenieure meiner Heimat haben sich hier wahrhaftig Gedanken gemacht, wie man den bislang etwas schwerfälligen Handelsverkehr zur See wirtschaftlich ankurbelt. Das Ergebnis präsentiert sich schlicht, aber gut manövrierbar, als schneller Zweimaster mit äußerst geringen Tiefgang, der nicht nur die gesamte Handelschiffahrt wenn nicht gar die gesamte Schiffahrt revolutioniert hat. Selbst die Unterhaltungskosten des Schiffes wurden beträchtlich gesenkt – wofür nun wieder die Reedereien dankbar sind. Die Eigenschaften dieses Schiffstyps sind sogar so gut, dass man sie entsprechend weiterentwickelt und hochseetauglicher gemacht hat.“
Dylan, der für Kosteneinsparungen immer ein offenes Ohr hatte, horchte nun auf.
„Oh wirklich? Darf ich fragen, welche Eigenschaften hier nun konkret betrachtet wurden?“
Van Blesius setzte sich etwas bequemer hin. Er nahm wieder einen tiefen Zug aus seiner Pfeife und zeigte dann mit halb ausgestrecktem Arm auf die Schiffe.
„Sehen Sie, MacDaragh, man hat die Fleute langgestreckter konstruiert. Durch die Verringerung der Breite wurde dabei auch der Tiefgang deutlich verringert, was sie besonders geeignet macht für die Fahrt in flachen Küstengewässern. Ein rundes Achterschiff mit stark eingezogenen Seitenwänden im Achterkastell, langgestreckter, bauchiger Form und flachem Boden wie der Fachmann sagt. Rein nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten konstruiert, um deutlich mehr Ladung fassen zu können. Repräsentativen Schnickschnack braucht’s hier nicht, deswegen hat man auch gerne auf die ganzen verzierten Aufbauten an Bug und Heck verzichtet.“
„Zudem lässt es sich leicht segeln mit wenig Mann Besatzung und hat jede Menge steuerlicher Vorteile für den Handel mit Massengütern“, fügte Gavin MacDaragh hinzug.
„Siehst du, wie schmal die Rahen sind, und die vielen Flaschenzüge? Durch diese Art der Takelung kannst du sogar recht nah an den Wind gehen.“
„Steuerliche Vorteile? Das musst du mir etwas näher erklären, Bruder.“ Dylan schaute jetzt interessiert, und Gavin lächelte wieder.
„Als dieser Schiffstyp entstand, wurde der Zoll für wichtige Durchfahrten der Handelsrouten, z.B. in der Meerenge zwischen Moonglow und Magincia nach der Größe der Fläche berechnet, die ein Schiffsdeck hatte. Um diese Gebühren anteilig zu senken, entwickelte man nun einen völligen neuen Schiffstyp – eben die Fleute. Was gleich an der Bauweise auffällt, ist der bauchige Laderaum mit als Rundgatt bezeichneten rund zu laufenden Schiffsheck und einem, durch die stark nach innen gerunden Spanten*, schmalem Deck. Oder anders gesagt, damit du es dir merken kannst, lieber Bruder: es ist also ein Schiff mit sehr ausladendem Rumpf und gleichzeitig stark nach oben verengten Bordwänden ohne ein durchgehendes Mitteldeck, das trotzdem bei hoher Fracht- und Ladekapaziät für ein kleineres Deck sorgt und somit teilweise diesen abstrusen Zollbestimmungen der britischen Krone entgeht.“
Der letzte Satz Gavins brachte nun alle zum Lachen.
„Trotzdem wirkt dieses Schiff ungewöhnlich hoch im Vergleich zu dem sichtbaren Rumpf.“
„Sehen Sie, Dylan“ setzte van Blesius wieder zur Erklärung an,
„der Zoll wird zum Glück ja nicht auf die Segelfläche berechnet. Dieser Schiffstyp hat in der Tat ungewöhnlich hohe Masten. Aber auch hier hat man die Segel schmaler und höher als sonst an kürzeren Rahen** gesetzt. Je zwei Rahsegel an den Vormasten, ein Rah- und ein Lateinersegel auf dem Achtermast und auf dem Bugspriet eine Blinde. Das Deck steigt immer noch in Richtung Heck an, mit einem Aufbau der der scheibar nur knapp über der Wasserlinie liegt, der aber deutlich stärker in die Rumpfkonstruktion integriert wurde als die sonst bei anderen Schiffen üblichen aufgesetzten Kastelle.“

Dylan’s Blick ging nun hinüber zum Schiff seines Bruders. Die „Silver Sirene“ unterschied sich in seinen laienhaften Augen eigentlich nicht wirklich von der „Purple Diluvian“ von Kapitän Van Blesius. Er erinnerte sich aber, das Van Blesius das Schiff seines Bruders noch anders bezeichnet hatte.
„Aha, ich denke ich verstehe so langsam“ sagte er dann,
“aber was macht nun den kleinen Unterschied zwischen beiden aus – zwischen einer Fleute und einer… wie sagte Sie doch, Kapitän?“
„Pinasse meinen Sie?“
„Genau, so sagten Sie. Pinasse. Woran soll der unwissende Laie nun den Unterschied bemerken?“
Van Blesius wies mit seiner Pfeife auf das Heck der Silver Sirene.
„Vergleichen Sie mal die Heckformen miteinander, Dylan. Die „Silver Sirene“ hat ein sogenanntes Spiegelheck – also ein gerades Heck, während mein Schiff ein Rundgatt hat. Eine Pinasse treibt sich zudem auch mehr in tropischen Gewässern rum. Wenn Sie dann noch genau hinsehen, sehen Sie auch das die Planken weniger stark gekrümmt sind.“
„Aha….und warum ist das so?“
„Das muss so sein, weil zu stark gebogene Hölzer in der Hitze reißen können“, sagte Gavin.
„Bei einem Walfangschiff wie meinem ist das sogar besonders wichtig. Da man nie vorher weiß, in welcher See sich der Wal aufhält. Die Suche nach ihm führt dich wirklich in alle Weltmeere – von eisig kalter See in tief tropische Gewässer und wieder zurück. Wenn dir ein Schwarm schlauer Tiere begegnet, narren sie dich genauso wie das Wetter oder das Meer selbst es tut.“

Es klang verbittert, und Dylan merkte, das seinem Bruder etwas gewaltig auf der Seele lag.
„Was ist passiert?“ fragte er dann und fasste seinem Bruder behutsam am Arm. Gavin, der kurz in seinen Erinnerungen verharrt war, rückte sich nun wieder zurecht. Er sammelte kurz seine Gedanken, bevor er sprach.
„Wir hatten ihn schon beinahe erwischt, nachdem wochenlang keine Spur von ihm zu sehen war. Nicht das geringste Anzeichen, bis dann endlich kurz vor den Valorian Islands einer auftauchte und sogleich wieder verschwand. Das Wetter war gut, der Wind pustete sich die Lunge aus dem Hals, aber das Meer plagte und narrte uns. Hinter den Inseln kriegten wir plötzlich starken Seegang. O’Cole musste die Rolle des Steuermanns übernehmen. Den alten Blake mussten wir leider dem Meer übergeben, hat’s nicht mehr geschafft. Es regnete aus Kübeln und wir hielten mit Achterwind Kurs auf Trinsic. Dann kam der Sturm und trieb uns vom Kurs ab, geradezu in südliche Gewässer. Der Regen ließ nicht nach, aber irgendwann schlief der Wind ein. Eine Flaute kam, in der wir dann tagelang rumkrochen – ein schläfriges Schiff mit schläfrigen Männern. Männern, die sich nun für wettergegerbte alte Hasen halten, seit sie in Britain angeheurt haben.“
Für einen Moment hielt Gavin MacDaragh inne und nahm einen langen Schluck aus seinem Weinkelch. Es war ihm anzumerken, das ihm das Erlebte der letzten Wochen und Monate merklich zugesetzt hatte.
„Wir waren nun fast am Äquator, aber den Wal hatten wir immer noch nicht gesichtet. Zu guter Letzt gingen uns dann auch noch die Vorräte aus, ich musste Rationen an die Mannschaft austeilen. War nicht einfach, die Meute wieder in den Griff zu bekommen. Manchmal kam es mir so vor, als waren wir nur da draußen, um Rum zu trinken, Abham’s verunglückte Klöße aus Pökelfleisch zu essen, abendelang Karten zu spielen und die Würfel rollen zu lassen. Man muss aufpassen dass man nicht den Verstand dabei verliert. Irgendwann aber frischte der Wind wieder auf und wir konnten die Reise fortsetzen. Und hatten Glück. Unterwegs trafen wir einen Händler aus Trinsic, der uns etwas von seinem Proviant überließ – und einen quengeligen Diplomaten der Krone, der wie wir auf dem Weg nach Serpent’s Hold war.“
„De Wever ist offensichtlich froh wieder an Land zu sein, wenn es auch nicht die Hauptstadt hier ist.“ Wouters van Blesius konnte sich ein Grinsen nun nicht mehr verkneifen.
„Er war ja vorhin noch reichlich blass um die Nase, als er von Bord ging. Ich hoffe für Euch, er hat nicht allzu oft die Fische gefüttert?“ Gavin grinste zurück. Van Blesius gefiel ihm sehr in seiner trockenen Art sich auszudrücken.
„Nun es hielt sich in Grenzen. Er war die ganze Zeit über in seiner Kajüte. Hat sich dort eingeschlossen und kam nur äußerst selten an Deck. Wir haben auch nicht viel gesprochen, aber ich würde schon gerne wissen wollen, warum er hier ist.“
„Ihr wisst es also noch nicht?“ fragte van Blesius.
„Nun woher auch, Ihr wart bis heute morgen auf See. Vor einer Woche ist die „Ricochet“ gesunken – mit Mann und Maus wie man so sagt. Und es gibt nur einen einzigen Überlebenden. Nun was soll ich sagen – mein Schiff hat den Mann gefunden und hierher gebracht. War noch erstaunlich gut zusammen – was den Geist anging. Manch einer hatte sich schon aufgegeben und wäre freiwillig zu Davy Jones runter auf die Kiste. Aber nicht dieser. Bei Gott, das ist kein Mann der sich leichtfertig aufgibt.“
„Wer ist er? Weiß man das schon?“
Van Blesius schien nachzudenken, dann aber lächelte er leicht.
„Man weiß noch nicht genau wer er ist. Er war völlig erschöpft und hat meist geschlafen. Auch hier kriegen sie noch nicht viel raus, deswegen ist der Diplomat wohl auch hier. Aber ich habe so eine Ahnung wer er sein könnte. Aber da kommt ja unser Essen endlich.“

Kapitän van Blesius sah dann auf. Linco kam, drei Teller beladen mit Bratenfleisch, frischem Gemüse und Kartoffeln balancierend, in eiligem Tempo und leise fluchend auf auf den Tisch zu.
„Aî… merde, ist das ‚eiß!“ jammerte er.
„Vorsicht Linco, das hier nichts daneben geht! Das wäre schade um das gute Essen!“ Gavin war schon aufgesprungen, um Linco einen Teller abzunehmen, als dieser knurrend von sich gab:
„Zu spät, mon capitaine, zu spät. Das ist es bereits!“

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* Spanten = Tragende Bauteile zur Verstärkung des Rumpfes bei Booten und Schiffen aller Art.
** Rahen sind Rundstangen, die quer zur Fahrtrichtung am Mast angebracht sind und meist aus Rundholz bestehen. Üblicherweise sind sie mit ihrer Mitte waagerecht an einem Rack an der Vorderseite des Mastes befestigt, das eine Drehbewegung (brassen) und eine senkrechte Bewegung (auftoppen) ermöglicht
 
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Die letzen Tage auf See

„Verflucht sei dein wertloser Balg, Johnson.“
Mac wurde aus einem unruhigen Schlaf gerissen, als lautes Gegröhle vom „Fisherman’s Brew“ herüberkam. Er stemmte sich aus dem Bett hoch und schlurfte langsam zum Fenster hinüber, das jemand wegen der sehr stickigen Luft in der Heilerstube geöffnet hatte. Ein paar der Hafenarbeiter standen laut lärmend auf der Straße vor der Taverne.
„Jetzt sieh zu, dass wir endlich in die Taverne kommen“ beschimpfte gerade einer den anderen.
„Los, Mann, beweg deinen nutzlosen Arsch! Sonst haben die anderen wieder vor uns alles ausgesoffen.“
„Ich geb dir gleich was auf deinen, Mr. Brown, wenn du mich noch mal anpöbelst. Hast wohl noch nicht genug auf die Fresse bekommen im Leben, was? Oder haste noch kleine Augen vom eben durch den Staub? Mensch, an den Nippeln deines Lieblinges wirste schon früh genug nuckeln können.“ Die anderen Männer lachten laut auf und feixten sich gegenseitig an.
„Von denen träumt er nämlich schon den ganzen Nachmittag. Lass dich mal nicht erwischen, wenn du weiterhin vergisst, Getreide beim Trimmen in die Ecken zu verteilen, Brown! Weisste doch, das das Zeug fließt wie Wasser!“
„Jo, der alte Tim Matthews passt da auf wie ein Schießhund, seit bekannt wurde, das die „Ricochet wohl deswegen mit abgesoffen ist. Manchem soll wohl schon der Laderaum auf See in die Luft gegangen – regelrecht explodiert, will ich damit sagen.“
„Du spinnst doch, Mannings! Alter, wie soll’n das gehen?“
„Erklär ich dir gleich drinnen! Los rein in die Pinte jetzt, ich hab Brand inner Kehle!“

Mac stand noch lange an dem offenen Fenster und sah den Männern nach. Erneut kamen schon längst vergessen geglaubte Erinnerungen hoch. Er war jetzt etwa vierzig Jahre alt und die meiste Zeit seines Lebens zur See gefahren. Es gab nur wenige Jahre, in denen er das nicht getan hatte, aber an die konnte er sich kaum erinnern.
Bevor Mac auf der „Ricochet“ als Bootsmann angeheuert hatte, hatte er – wie so oft schon - in den Lagern der Häfen mitgeholfen, wie er es immer tat, wenn es kein Schiff gab, auf dem man anheuern konnte. Bedauert hatte er das nie, denn vieles was er dort gelernt hatte, kam ihm auch immer wieder bei seiner Arbeit auf See zugute.

Hafenarbeit war oft nur Gelegenheitsarbeit und war abghängig vom Schiffsverkehr und der im Hafen liegenden Anzahl der Schiffe, die in den Docks lagen. Tage, die allen Arbeitern eine Chance auf ausreichende Beschäftigung boten, weil ein Schiff mit verderblicher Ware be- oder entladen werden musste, wechselten mit Tagen, in denen für keinen eine wirkliche Arbeit gab. Die Form der tageweisen Beschäftigung machte den Prozess des Anbietens und Anheuerns einer Arbeitskraft sehr korrumpierbar. Jeden Morgen warteten die Männer an einer bestimmten Stelle im Hafen, um von einem der Vorarbeiter für die Gang* ausgewählt zu werden. Die Konkurrenz untereinander war dementsprechend hoch, und oft genug musste man es erleben, das man keine Arbeit fand, wenn man nicht bereit war, dem anwerbenden Vorarbeiter einen Teil seines Lohnes zu geben oder weil man einfach die falsche Hautfarbe hatte.
In den größeren Städten fand die Anwerbung der Arbeiter zudem auch in den Hafenkneipen statt. Hier war die Chance auf Beschäftigung umso größer, je besser die persönliche Beziehung zu einem der Wirte war. Die Arbeit war knochenhart, oft schmutzig und ohne jegliche Absicherung durch eine staatliche Regelung für die Männer, und die Reedereien und Kaufleute drückten sich oft genug vor der Lohnzahlung oder zahlten nur ein geringes Entgelt, das kaum zum Leben reichte. In den Gangs erkannte man sehr schnell, das man nur etwas dagegen tun konnte, in dem man sich noch fester zusammenschloss und sich gegen die Obrikeit des Staates organisierte.
So war es auch in Trinsic gewesen, als die „Ricochet“ dort eingelaufen war, um eine Ladung Gerste aufzunehmen, die man nach Serpent’s Hold transportieren sollte. Mac hatte noch immer die streikenden Hafenarbeiter vor Augen, die dort in den Docks für bessere Arbeitsbedingungen und gerechtere Entlohnung gekämpft hatten. Der Streik hatte das Schiff gezwungen, einige Tage mehr als von der Reederei geplant im Hafen zu liegen, und somit kam die die Verladung des Getreides nur stockend voran. Den ansässigen Vertretern der Reederei in Trinsic mißfielen die hohen Kosten, die das Schiff dadurch verursachte, da es untätig im Hafen herumlag. Kapitän Russel, der sich zunehmend von der Reederei unter Druck gesetzt sah, flüchtete sich erneut in die Krankheit und schob alle Verantwortung von sich. Um auch hier Zeit und Kosten zu sparen, wartete er dieser erst gar nicht ab, bis das Getreide in Säcke abgefüllt wurde, wie es sonst üblich war, sondern gab seinen ersten Offizier, Lieutenant Joyce den Befehl, das Getreide lose zu verladen.
Getreide oder auch Reis, das wusste Mac aus seiner Zeit als Lagerarbeiter, war „gefährliches“ Transportgut, und deshalb galten besondere Regelungen bei der Lagerung und Verschiffung. Loses Getreide verhielt sich wie Wasser. Zudem hatte es die unanangehme Eigenschaft, Feuchtigkeit wie einen Schwamm aufzunehmen, und besonders Reis konnte bei erheblicher Nässe so stark aufquellen, das es nicht nur den Raum sprengen konnte, in denen es gelagert wurde, sondern sondern auch schon mal ganze Schiffe versenkte. Deshalb wurde nur „verschiffungstrockenes“ Getreide in Säcken verladen, denn Feuchte und Wärme konnten bei einer Bulkladung nicht durch Lüften und Umschichten abgeführt werden, was dann oft genug zu einer ungesunden Stock- und Schimmelbildung führte. Das galt für Brotgetreide gleichermassen wie für Saatgetreide, das genießbar und keimfähig bleiben musste.
Er sah Lieutenant Joyce in Trinsic wieder vor sich, der schon in Trinsic mit seinem Gewissen und seiner Verantwortung der Mannschaft gegenüber gerungen hatte. Berunruhigt über diese ungewöhnliche Vorgehensweise hatte der Lieutenant seine eigenen Berechnungen über die Stabilität des Schifes angestellt, da auch der Befehl gekommen war, die unteren Bereiche des Schiffes mit Getreide zu füllen. Das Ergebnis war alarmierend gewesen. Der Versuch, den Kapitän durch Vorlage dieser Berechnungen doch noch zur Vernunft zu bringen, scheiterte kläglich. Russel, wohl auch gepeinigt durch seine Krankheit reagierte zutiefst beleidigt und weist seinen Offizier auf schärfste zurück, da er wisse was er tue und kein blutiger Anfänger mehr sein.
Mac hatte alle Mühe gehabt, den darüber zutiefst verärgerten Joyce vor einer Meuterei zurückzuhalten, um ein Auslaufen des Schiffes zu verhindern. Ohne groß um Erlaubnis zu bitten, hatte er das Verladen des Getreides übernommen. Es kümmerte ihn herzlich wenig, was der Kommandant zu befehlen hatte. Vor seinem geistigen Auge befand er sich bereits auf hoher See, wo die Ladung bei zu rauher See unweigerlich übergehen würde. Noch während andere das Getreide unter das Deck brachten, nahm er zusammen mit dem Schiffszimmermann ein paar bauliche Maßnahmen vor, in dem er einige längere Schotts in die Ladekammern baute und die viel zu große Ladefläche etwas damit verringerte. Noch immer spürte er das Jucken und Brennen auf der Haut und in den Augen des in dicken Staubwolken aufgewirbelten Getreideschüttgutes.
So gut es ging hatten die Männer und Schiffsjungen versucht, das Getreide auf eine ebene Fläche zu trimmen, die dann mit den wenigen gefüllten Säcken, die sie bekommen hatte, abgedeckt wurde, um ein Verrutschen zu verhindern. Um Lieutenant Joyce zu entlasten, der von der Mannschaft hochgeschätzt wurde, hatte er sich dann heimlich das Logbuch des Kapitäns besorgt und übertrug, nachts wenn Mannschaft und Offiziere in ihren Kojen schnarchten, die Berechnungen des Lieutenants als Beweis für die Reederei.

Mac zuckte zusammen, als plötzlich drüben mit Wucht die Tür der Tavene von innen weit aufgerissen wurde. Einer der Hafenarbeiter kam unter dem lauten Gegröhle seiner Kameraden wieder hinaus und hatte eine laut keifende Frau wie einen Sack geschultert, die heftig mit den Beinen strampelte und seinen Rücken mit ihren Fäusten bearbeitete. Der Mann trug sie noch grinsend einen Moment so weiter die Straße am Hafen hinauf, aber dann wurde ihr Zappeln so wild, das er sie lachend absetzte, sich mit ihr in eine dunkle Ecke drängte und ihr Gekeife mit einem gierigem Kuss stoppte, den er ihr auf den Mund presste. Die Frau löste sich dann wieder, verpasste dem unbehobelten Kerl eine schallende Ohrfeige wegen seines schamlosen Benehmens, ließ sich aber dann schnell wieder beruhigen und von dem Mann wegführen.
Mac sah wieder zur Taverne hinüber. Aus der immer noch geöffneten Tür fiel nun ein breiter Lichtstreifen, der den kleinen Platz vor der Taverne in der Abenddämmerung etwas ausleuchtete. Der Wirt war herausgetreten und zündete mit einer brennenden Lunte die Laternen an, die rechts und links neben der Tür hingen. Irgendjemand hatte die ersten Zeilen eines lustigen Liedes angestimmt, das die anderen fröhlich mi lautem Fußstampfen und Handeklatschen begleiteten. Mac lächelte leicht. Er erinnerte sich gleich an dieses Lied – die Matrosen und Seeleute hatten es oft genug auf den Schiffen gesungen, mit denen er gesegelt war. Leise summte er die Melodie mit.


To sea, to sea! The calm is o’er;
The wanton water leaps in sport,
And rattles down the pebbly shore.
The dolphin wheels, the sea-cows snort,
And unseen Mermaids‘ pearly song
Come bubbling up, the weeds among.
Fling broad the sail, dip deep the oar;
To sea, to sea! The calm is o’er.


Es ließ sich nicht leugnen, dass irgendwie jeder froh darüber war, Trinsic endlich verlassen zu können. Zwei Wochen später war die Ladung verstaut, und die „Ricochet“ mit Kurs auf Serpent’s Hold wieder in See gestochen. Zunächst verlief alles ruhig, aber als sie noch weiter in den Süden kamen, geriet das Schiff in eine schwere Flaute, die arg an den Nerven der gesamten Mannschaft zerrte. Die „Ricochet“ bewegte sich kaum von der Stelle. Die plötzliche unheimliche Stille, die auf der spiegelglatten und windstillen Wasseroberfläche lag, wurde nur hin und wieder vom Ächzen und Stöhnen des Schiffes unterbrochen, das auf dem glatten Wasser irgendwie nur so dahinplätscherte und sich bisweilen um die eigene Achse zu drehen schien.
Tagüber knallte die sengend heiße Sonne auf das Deck. Die Segel blieben gehisst, um jeden Lufthauch aufzufangen, der irgendwie entstehen konnte, aber nichts passierte. Lieutenant Joyce hatte bereits angefangen, die Rationen einzuteilen, aber das besserte die Stimmung an Bord überhaupt nicht. Die Männer waren schlecht drauf, vielen schmerzten die Glieder und der Kopf. Sie lagen an Deck auf den unter den schmalen Schatten der Segel und dösten vor sich hin.
Unter Deck war es noch stickiger. Das warme gefirnisste Holz dünstete ebenfalls aus. Zusammen mit den schwitzenden Körpern der Männer ergab das einen unerträglichlichem Bordem, der einen Nachts nicht schlafen ließ. Nur nachts wurde es etwas kühler. Das war dann auch der Zeitpunkt, an den der Verstand der Männer wieder klarer wurde und Mac die Männer zur Lüftung der Laderäume animieren konnte.
Tagelang ging das so. Die Flaute schien nicht enden zu wollen. Mac erinnerte sich noch den Moment, wo der Wind kurzfristig zurückkehrte und mit den Menschen spielte, wie mit einer Marionette. Eines Morgens gab es wie – wie aus dem Nichts heraus und für ihn völlig unverständlich - eine beständige Brise, die ihnen voll entgegenwehte. Eine wirkliche windige Brise und kein eingebildeter Lufthauch. Das Schiff nahm kurzfristig wieder Fahrt auf und kam meilenweit damit voran, allerdings in einer Richtung, die mit den Ursprungskurs kaum etwas zu tun hatte.
Mac schien es als wenn nur ein abgefeimtes Spiel einer höheren Gewalt dahinterstecken konnte, und er behielt Recht. Zum Erschrecken aller legte sich der Wind wieder. Von einem Augenblick auf den nächsten schlief er einfach wieder ein, als sei er der Scherze überdrüssig geworden. Aber schon wenige Stunden später, in dieser sternklaren Nacht frischte er dann doch plötzlich wieder auf.
Die Fahrt konnte weitergehen die „Ricochet“ fand ihren Kurs in Richtung Zielhafen wieder. Die Stimmung an Bord war in dieser Nacht wieder so fröhlich wie in den ersten Tagen der Abreise. In der Kühle der Nacht erklang aus dem Kehlen der Männer ein Lied. Alle sahen voraus, keiner blickte mehr zurück. Und so bemerkte auch niemand die schwarze Wand am Horizont, die sich hinter ihnen bedrohlich auftürmte. In dieser sternklaren Nacht ahnte niemand etwas von dem Monster, das die Verfolgung schon aufgenommen hatte.


To sea, to sea! Our wide-wing’d bar
Shall billowy cleave its sunny way
And with its shadow, fleet and dark,
break the caved Triton’s azure day,
like mighty eagle soaring light
o’er antelopes on Alpine height.
The anchor heaves, the ships swings free,
The sails swell full. To sea, to sea
!


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*Ein Gang ist eine Gruppe von Hafenarbeitern, die aus fünf bis zehn Mann besteht, sowie einem als Vize, Viez oder Stauerviez genannten Vorarbeiter. Der Begriff ist abgeleitet aus dem englischen gang ['gæŋ] für Bande. Gänge/Gangs wurden vor allem bei den Schauerleuten zum Laden und Löschen von Schiffen gebildet.

** Quelle: „Mariner‘s Song“ entnommen aus dem Buch „Death's jestbook, or the fool's tragedy“ von Thomas Lovell Beddoes, die deutsche Übersetzungwurde von mir etwas besser an den englischen Text angeglichen.
 

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Die Herberge an Hafen

Direkt neben dem „Dog and Lion’s Pub“ lag tief in die dicke Mauer der Festung eingebettet das „Broken Arrow Inn“. Unter der Führung von Tessa Seggallion hatte sich die einst schäbige kleine graue Absteige am Hafen von Serpent’s Hold zu einer kleinen, aber feinen und gemütlichen Herberge gemausert. Einst aus Jhelom auf der Suche nach ihren familiären Wurzeln herübergekommen, hatte sich die damals noch jüngere Frau in diesen kargen Landstrich verliebt und war hier auf der Insel geblieben. Mit der kleinen Erbschaft, die ihr die Mutter hinterlassen hatte und den eigenen kleinen Ersparnissen hatte sie dem Ritterorden der Silberschlange den halb zerfallenen Steinbau abgekauft und mit viel Energie und meist gegen den Willen der ehrwürdigen Ritterschaft das Haus baulich so verändert, dass die gut betuchten Händler und Kaufleute, Diplomaten und andere feine Herrschaften, die Serpent’s Hold immer wieder anlegten, eine ihrem Stand angemessene Bleibe und Unterkunft auf der Insel vorfinden konnten.
Aus den einfachen zweckmäßigen Unterkünften mit ebenso schlicht gehaltenen Klosterzellen für Händler, Geistliche oder sonstiges gemeines Volk, das die Insel besuchte, waren nun recht luxuriöse Zimmer geworden, in denen nun sogar Adlige und Fürsten bereit waren, zu nächtigen. Auf diese Weise wurde das „Broken Arrow Inn“ auch über die Grenzen von Serpent’s Hold hinaus bekannt und verschaffte sich so einen gewissen Ruf, der sich rasch in ganz Sosaria verbreitete. Natürlich gab es auch gewisse neidische Zungen die behaupteten, es läge nur an seiner Besitzerin, dass das Geschäft so einträglich lief.
Tatsachlich war Tessa Seggallion eine Frau von stupender Schönheit. Smaragdgrüne Katzenaugen funkelten aus einem ebenmäßig geschnittenen Gesicht, das von wild züngelnden roten Locken umrahmt wurde, die leicht im Nacken zusammengesteckt waren. Ihre weichen vollen Lippen verzogen sich meist zu einem spöttisch schelmischen Lächeln. Eher zierlich gebaut, war sie nicht sehr groß, aber was ihr an körperlicher Größe fehlte um sich durchzusetzen, machte ihre selbstbewusste Erscheinung schnell wieder wett. Dieses gewisse Maß an Unerschütterlichkeit war auf dieser Insel, auf der eine Schar grauhaariger antiquierter Ritter saß, die immer noch längst vergesenen Traditionen nacheiferte, bitter nötig, zumal auch die meisten Gäste in der Herberge eher männlich als weiblich waren. Meist waren es die Kapitäne und deren Offiziere, die ihre Kojen an Bord gerne für ein paar ruhige Nächte gegen ein gutes Bett tauschten. Tessa Seggallion hatte ein paar Stammgäste, von denen einige in regelmässigen Abständen immer wieder kamen. Und die Gold in die ständig leere Hotelkasse brachten. Und dann gab es noch „ihn“.

Tessa Segallion seufzte leise und blickte von dem dicken Kontobuch auf, wo sie ihre Einkünfte und Ausgaben für das Hotel fein säuberich aufgelistet hatte. Ihr Blick wanderte durch das Foyer der kleinen Herberge hinüber zur Treppe, wo der einzige Gast, den sie im Moment hatte vor etwa einer Stunde in sein Zimmer gegangen war. Noch immer klang die schnarrende kehlige Stimme des kleinen Diplomaten im Ohr, der es allein schon durch seine bloße Anwesenheit immer wieder schaffte, gewaltige Unruhe in das tägliche Geschäft zu bringen. Im Namen seiner Majestät, des Königs benötigte dieser unmögliche Mensch natürlich nur die besten Räume in den besten Unterkünften mit der besten Küche, und natürlich waren seine Majestät am Ende des Aufenthalts auch immer wieder untröstlich, nicht angemessen für Kost und Logis eines gewissen Bart de Wever aufkommen zu können, da die Steuermittel des Königreiches dieses nicht zuließen. Nein, im Gegenteil – die Krone setzte voraus, das man seiner Majestät alles umsonst überließ. Ärgerlich blätterte sie ein paar Seiten zurück, bis zu einer Stelle, hinter der eine dick unterstrichene rote Zahl hinter dem Namen des Diplomaten aufauchte. Die Zahl der Schulden, die die britanische Krone mittlerweile bei ihr hatte, belief sich nun fast auf 750.000 Goldstücke, die ein gewaltiges Loch in ihre Bilanz rissen. Natürlich waren die letzten finanziellen Reserven, die sie beiseite gelegt hatte, längst aufgebraucht. Zudem hatte auch der letzte Sturm den Zeitplan ihrer Zulieferer durcheinander gebracht.

Um den Ruf ihres Betriebes im Lande zu festigen, hatte sich Tessa mit den Pichol’s zusammengetan, denen der „Dog and Lion’s Pub gehörte“. Während sich Linco und Marie mit ihrer kleinen Familie um das Wohl der Gäste kümmerte, sorgte Tessa auf nicht immer ganz gesetzliche Weise dafür, dass die Vorratsräume und der kleine Weinkeller der Taverne gut mit Waren gefüllt waren. Dafür hatte sie, so kam es ihr zuweilen vor, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen. Baron Thaon Rivel de Lantos. Einen sehr gewitzten, adligen Seeteufel aus Minoc, der dort ein Weingut hatte und irgendwo weiter unten am Rande der Welt auf einer Insel auf einer Plantage Kaffee und Zuckerrohr anbaute und Rum produzierte. Die letzte Lieferung des Barons war schon einige Wochen her, und die Vorräte gingen zur Neige. Von dem Baron oder seinen Verbindungsleuten kam seit Wochen schon keine Nachricht. Und ausgerechnet jetzt setzte ihr das Schicksal diesen snobistischen Beamten der Krone vor die Nase, der ungefragt überall herumschnüfffelte und vor dem sie gewaltig auf der Hut sein musste, damit ihr kleiner Nebenerwerb nicht jede Minute aufflog.
Auf Schmuggelei standen sehr hohe Geld- und Haftstrafen, aber das hinderte niemanden daran, trotzdem weiter zu machen. Schmuggeln gehörte zum Alltag und oft auch zum Überleben, wenn die Preisunterschiede der Ware entsprechend groß waren. Im Bereich der großen Häfen war es gang und gebe, dass die Schauer- und Schiffsleute den Verbund der Hafengangs ausnutzten, um als Gelegenheitsschmuggler ihre mikrigen Tagelöhner-Gehälter aufzubessern. Kleine Banden von etwa sieben Mann schafften auf den Wasserwegen und Trampelpfaden der Insel die Schmuggelware herbei, um sie dann in der Stadt zu verkaufen. Die Banden arbeiteten meist nachts, und die Konkurrenz und der Neid untereinander waren groß. Schlägereien unterhalb der Gangs kamen oft genug vor, und auch sonst herrschte ein rauer Ton. Nach erfolgreicher Schmuggeltour wurde meist kräftig gefeiert, das verdiente Gold mit Lokalrunden leichtfertig wieder ausgegeben.
Geschmuggelt wurde alles, was hoch versteuert wurde – Tuchmacherware, Rohbaumwolle, Gewürze, Salz, Zucker. Besonders profitabel war der Schmuggel von Kaffee und Tee, Tabak und Branntwein, vor allen von Rum. Waren, die die einfache Bevölkerung oft lange genug entbehren musste. Natürlich gab es auch einen regulären Markt für diese Güter, aber die Ein- und Ausfuhr war begrenzt, und über jede Abgabe aus den Lagern wurde akribisch Buch geführt.

Von Zeit zu Zeit verhängte die sosarische Krone sogenannte „Kontinentalsperren“ über die Städte, die auf den Inseln des Landes ansässig waren – vor allen, wenn die Bewohner zu sehr gegen die Beschlüsse der Krone aufmuckten – was sie oft genug taten. Diese wirtschaftliche Blockadepolitik bewirkte aber nur, dass der Schmuggelhandel umso stärker aufblühte. Ein regelrechter Schleichhandel zwischen dem Festland und den Inseln begann, da schlaue Kaufleute immer wieder Lücken in diesem von König verhängten Sperrgürtel fanden. Um die Schmuggelei ein für alle mal einzudämmen, hatte die Krone vor einigen Jahren dann zu verschärften Maßnahmen gegriffen. Die Zölle und Steuern wurden drastisch erhöht. Sondergerichte wurden eingesetzt, die jedes Vergehen gegen die Gesetzgebung hart verfolgte. Der Zollfahndungsdienst wurde als rein fiskalische Aufgabe gesehen, mit der die maroden Finanzzustände des Reiches aufgebessert werden sollten. Es entstand eine mit sehr spezifischen kriminalpolizeilichen Methoden arbeitende Strafverfolgungsbehörde, die dem Groß- und Kleinschiebertum über die Grenzen hinweg einen Riegel vorschieben sollte. Aber Korruption kennt keine Grenzen. Die Löhne der Zöllner waren nur wenig besser als die der Hafenarbeiter. Der Erlös eines Kilo Kaffees brachte dem Staat bis zu 15.000 Gold ein, und so war es auch wenig verwunderlich, dass immer wieder versucht wurde, vom Schmuggel zu profitieren. Es war ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Zollbeamte, die sich bestechen ließen, riskierten Zuchthaus und in ganz schweren Fällen sogar die Todesstrafe. Im Gegenzug dazu drohte einem Schmuggler ebenfalls Zuchthaus und Tod. Die Kontrollen an den Häfen und Grenzen im Lande wurden scharf gehandhabt, und zur Ergreifung von Schmugglern durch die zivile Bevölkerung wurden mittlerweile hohe Belobigungen ausgesetzt. Aber die Besten unter den Schmugglern arbeiteten sehr professionell und wurden nur selten gefasst.
Ein leises Lächeln umspielte Tessas Lippen. Hier am Hafen von Serpent’s Hold konnte man sehr gut beobachten, wie der Grenzverkehr von den Zöllnern gehandhabt wurde. Die Gesichter der Beamten waren bekannt, daher konnte man ihnen leicht aus dem Weg gehen, wenn die „schwatte Gang“, wie man die Zöllner allgemein nannte, auf Streife waren. Oft bekamen sie dabei die Hilfe der Bevölkerung selbst, die einen Zöllner lautstark begrüßte, wenn sich dieser auf seinen Kontrollgängen befand. In Zeiten der Not hielt man eben zusammen!
Größere Sachen schmuggelte man in Säcken oder Fässern und versteckte sie in den Scheunen der Bauern auf der anderen Hälfte der Insel. Schmuggelware, die klein genug war, wurde meist am Körper versteckt, und später dann wenn es sicher an seinen Bestimmungsort angekommen war, verkauft oder selbst verbraucht. Tessa wollte schon gar nicht mehr wissen, was Marie bereits alles in den Porzellantöpfen ihrer Küche versteckt hielt, von denen so einige nichts wissen durften. Vor allen Dingen Kaffe hatte sie dort versteckt. Kaffee, der oft genug nach Mehl oder Bohnenkraut schmeckte. Wie dieser, der jetzt vor ihr stand und längst kalt geworden war.

Engeekelt schüttelte Tessa den Rest Kaffee in den großen Pflanzkübel, der neben dem Tresen der Reception stand. Derselbe angeekelte Blick traf das Kontobuch, als sie sich wieder drüberbeugte. Sofort fiel der Blick wieder auf die fette rote Zahl, was ihren Magen erneut zusammenkrampfen ließ. 750.000 Gold Außenstände! Eines Tages würde sie diesen Diplomaten an die Kehle gehen. Sie würde ihn zwingen, für sie die Kronjuwelen zu rauben und zu Gold zu machen, damit dieser Schandpfleck auf ihrer sonst so sauberen Weste endlich getilgt werden konnte!
Tessa Seggallion war so vertieft in ihre Berechnungen, dass sie kaum bemerkte, wie leise Schritte näherkamen. Erst als ein Schatten über die Seiten des Buches huschte, zuckte sie erschrocken zusammen und blickte auf.
„Mon dieu… Louise! Musst du dich immer so anschleichen?“ Sie schlug rasch das Buch zu. Die Summe ihrer Schulden ging niemanden etwas an.
„Was gibt es schon wieder? Die Sache mit dem zerschlagenen Porzellan hatte ich doch schon heute Nachmittag mit Linco besprochen. Oder hat der feine Herr oben im ersten Stock etwa Sonderwünsche?“
„Nein, Madame….“ kam es schüchtern von Louise. „Weder noch! Aber Linco schickt mich, Ihnen zu sagen, dass der Capitaine …“
Louise stockte plötzlich. Sie schluckte merklich, als müsse sie einen dicken Frosch herunterwürgen. Tessa Seggallion faltete ihre Hände ineinander und legte sie auf das geschlossene Buch. Sie zwang sich ruhig zu bleiben, lächelte und nickte der jungen Frau aufmunternd zu.
„Ja? Welcher Käpitän? Von wem sprichst du?“
„Linco sagt, der Ewer liegt im ‚afen, der von Capitaine Vance. Und eben war diese schreckliche Schnapsdrossel …dieser Bartholomew Crust da und führte ganz seltsame Reden. Ich soll Euch ausrichten, Lily läge am Strand, ruhe sich aus und würde in ein paar Tagen wieder abreisen. Und wartet auf ein Zeichen, ob sie jemand mitnehmen soll.“
Louise Pichol schüttelte leicht den Kopf. Ihr war noch deutlich der Schreck und der Ekel anzumerken, den Bartholomew Crust bei ihr hinterlassen hatte.
„Linco konnte sich keinen Reim drauf machen“, fügte sie noch hinzu.
„Er ‚at diesen unangenehmen Menschen aus der Taverne entfernt. Madame, was bedeutet das alles?“
Tessa Seggallion hatte schon mit dem Schlimmsten gerechnet, aber nun fiel ihr innerlich ein Stein vom Herzen. Endlich! Das war das Zeichen, auf das sie lange genug gewartet hatte. Der Baron hatte sich – wenn auch durch den Sturm verspätet, an seine Abmachung gehalten. Sie hatte nun drei volle Tage, um ihren Teil der Abmachung zu erfüllen. Sie blickte auf Louise Pichol und lachte befreit auf.
„Ach, Louise. Wegen dem Gefasel einer Schnapsdrossel wie du selbst sagst, machst du dir Sorgen? Das ist nicht dein Ernst! Glaub mir, das bedeutet gar nichts. Das ist das Gerede eines von billigem Fusel verdorbenen Verstandes. Der gute Mr. Crust hat vermutlich den „Fisherman’s Brew“ mit uns verwechselt. Linco hat gut daran getan, diesen Mann aus der Taverne zu werfen. Er weiß, dass ich solche Kundschaft nicht dulde. Wir sind ein anständiges Haus.“
Louise warf ihr einen Blick zu, der in etwa besagte, dass das so ja nicht ganz stimmte, aber Tessa Seggallion ignorierte das. Sie erhob sich und verschloss das dicke Kontobuch in einem Geheimfach in der Wand hinter der Rezeption und hängte ein Bild darüber.
„Es ist spät geworden. Meine Berechnungen kann ich auch morgen noch durchführen. Sage bitte Linco, er möchte die Taverne auch bald schließen. Unser besonderer Gast braucht nämlich seine Ruhe.“
„Sieur de Wever? Dieser Mann kennt keine Ruhe! Der ‚at mich ‚eute schon genug gescheucht!“
„Ja, mich auch! Sei bitte noch so lieb und mach die Bettpfanne fertig.“

Louise nickte kurz und eilte in die Küche, während Tessa Seggallion vorne die Eingangstür verschloss und sich dann, mit einer Laterne in der Hand, auf den Weg nach oben in ihr Zimmer machte. Ihr Nachtzeug lag bereits auf dem Bett, als sie die Tür öffnete. Das Zimmer war kalt, und die Wärme des Kaminfeuers fing gerade erst an, sich im Raum zu verteilen. Tessa trat mit der Laterne ans Fenster und blickte fröstelnd hinaus auf den Hafen. Linco hatte nicht gelogen. Dort im hellen Mondlicht schaukelte die „Ashtalarea’s Breath“, der große See-Ewer von Kapitän Vince Percival Lance in der sanften Dünung des Hafenbeckens. Gegen das Licht hob sich der schwarze Schatten des Kapitäns ab, der unruhig auf dem Deck seines Schiffes hin und her wanderte. Tessa Seggallion stellte die Laterne ins Fenster und starte weiter hinaus. Ein Licht blitzte vom Schiff zurück, und kurz darauf noch eines. Tessa lächelte zufrieden, nahm die Laterne aus dem Fenster und zog die Vorhänge zu.

Als Louise mit der Bettpfanne kam, lag Tessa Seggallion bereits tief und fest schlafend im Bett und träumte von einem gewitzten, adligen Seeteufel aus Minoc, der stolz am Steuer seines Schiffes stand.
Unten auf der Straße löste sich aus dem Schatten ihrer Herberge eine schlanke, hochgewachsene Gestalt, die leise lächelnd den Kai hinunter auf ein Ruderboot zuging. Die Zeichen in jener Nacht wussten auch andere zu deuten!
 

Mac Mahon

Schüler
Ein Mann der Krone

Verehrter Mr. Smith,

entschuldigen Sie, dass ich Ihnen jetzt erst wie zwischen uns vereinbart schreibe, aber gewisse Zustände an Bord der „Ricochet“ verhinderten zunächst eine zeitnahe Mitteilung. Ich hoffe, Sir, dass Sie mir das nachsehen. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich mich seit meiner sicheren Ankunft in Vesper seither an Bord der „Ricochet“ befinde. Kapitän Russel war zum Zeitpunkt meiner Ankunft vor drei Monaten in Vesper nicht an Bord. Es wurde mir gesagt, dass man ihn auch nicht vor unserer Abfahrt zurückerwarte. Zu meinen Schrecken musste ich feststellen, dass das Schiff während der Abwesenheit des Kapitäns in einem Zustand völliger Unordnung befand. Obwohl zwei Masten aus ihrer Verankerung gehoben worden waren und die neuen Masten bereits an Bord lagen, machte niemand von der Mannschaft hier Anstalten, diese einzusetzen. Ebenso waren entsprechende Vorbereitungen für die bevorstehende Seereise ebenfalls noch nicht getroffen worden, obwohl es Befehl des Kommandanten gegeben hatte, das Schiff habe bei seiner Rückkehr abfahrbereit zu sein. Die Offiziere, so scheint es, haben die Situation nur schwer im Griff, und die Mannschaft vergnügt sich lieber mit Frauen von zwielichter Herkunft. Lieutenant Brendan Joyce und ich haben in Abwesenheit des Kommandanten das Kommando übernommen und die Ordnung an Bord weitestgehend wiederhergestellt. Bedauerlicheweise weiß Kapitän Russel, der nach Auskurierung seiner Krankheit erst nach Wochen an Bord kam, unser Bemühen nicht im Mindesten zu würdigen. Gegenwärtig liegen wir in Trinsic wegen schlechten Wetters vor Anker und sind wir dabei, uns hier mit allem Nötigen einzudecken, das Schiff wieder flott zu machen und die Güter für die Ritter auf das Schiff zu laden. Wegen des Streiks der Hafenarbeiter sind wir gezwungen, beim Verladen der Ware selbst Hand anzulegen. Ein schwieriges Unterfangen, da es sich um lockeres Schüttgut handelt, das nicht wie üblich in Säcken verstaut ist. Lieutenant Joyce befürchtet das Schlimmste, und ich hoffe und bete nur noch, dass das Wetter bis Britain uns wohl gesonnen ist.

Verehrter Mr. Smith, ich komme nicht umhin Ihnen zu sagen, dass es vor einigen Tagen erneut einen sehr berunruhigenden Vorfall gegeben hat. Die Mannschaft ist nur schwer unter Kontrolle zu bekommen, da viele Matrosen den Befehlen der Offiziere nicht befolgen wollen. Kapitän Russel, den erneut sein Leiden plagt, war zum Zeitpunkt dieses Zwischenfalls nicht selbst zugegen. Lieutenant Joyce und ich sahen uns daher gezwungen, jeden Mann mit Namen aufzurufen und zur Arbeit anzuhalten. Mit Unterstützung der anderen Offiziere und einiger Manschaftsmitglieder waren wir so in der glücklichen Lage, die Oberhand behalten zu können, dennoch machte sich die Mannschaft nur widerwillig an die Arbeit. Mein Bericht darüber an den Kommandanten brachte diesen lediglich zur Überzeugung, es läge nur daran, dass er, Kapitän Russel, länger durch seine Krankheit ausgefallen wäre und daher nicht an Bord gewesen sei.
Verehrter Mr. Smith, ich kann Ihnen versichern, dass es der Mannschaft gerade dann nicht an Disziplin mangelt. Kapitän Russel liegt noch immer krank darnieder, da der Gallenstein nicht abgeht, wie mir der Doctor sagte. Zudem erfuhr ich auch, dass der arme Mann auch häufig unter Migraine leidet. Ich danke dem Herrgott für meine gute Gesundheit.

Ich hoffe, dass es Ihnen gut geht und Sie in Ihrer Angelegenheit vorankommen.

Ich verbleibe, Sir, mit den besten Wünschen für Ihre Bestrebungen,
Marcus „Mac“ Mahon, Bootsmann



Das Papier des Briefes raschelte leise, als Bart de Wever ihn wieder in die Mappe auf den kleinen Tisch legte. Er drückte sich nun bequemer in den großen Ohrensessel, der vor dem brennenden Kamin, holte ein sauberes Taschentuch aus dem Ärmel seines Morgenrockes hervor und fing an, besonders sorgfältig die Gläser seiner Brille zu reinigen. Befriedigt lauschte er den leisen Knistern des Feuers im Kamin und hing weiter seinen Gedanken nach. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. Der Brief seines Spiones hatte nun einen Teil seiner Vermutungen bestätigt, was er in Bezug auf die Reederei schon längst vermutet hatte. Die „Ricochet“ war in so einem maroden Zustand gewesen, das sie in Vesper eigentlich schon gar mehr hätte auslaufen dürfen. Je länger Bart de Wever darüber nachdachte, desto klarere Züge nahm das Ganze für ihn an. Stück für Stück fügten sich nun die einzelnen Puzzelteilchen, die ihm seine Spione übermittelt hatten, zu einem großen Ganzen zusammen.

Die Untersuchung des königlichen Seegerichtshofes war längst noch nicht abgeschlossen. Man könne sich nur auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten äußern, hieß es. Immerhin wurde die Tatsache, das Schiff könne nur durch höhere Gewalt gesunken sein, bereits ausgeschlossen, was infolge dessen die Reederei schwer belastete und nicht nur Kapitän Russel allein. Dieser hatte erst wenige Wochen vorher seinen Dienst auf der „Ricochet“ angetreten, als Ersatz für seinen für den Seedienst zu alt gewordenen Vorgänger, und war nicht wirklich mit dem Schiff vertraut gewesen. Lieutenant Joyce kam frisch von der Marineschule und hatte noch nicht wirklich Erfahrung, was das Segeln so großer Schiffe anging. Die Mannschaft selbst bestand aus einem wilden Haufen Männer, die durch Presskommandos angeheuert worden waren. Dazu kam, dass der Streik der Hafenarbeiter in Trinsic den Zeitplan der Handelroute durcheinander gebracht hatte, und zudem wurde die Verladung der Gerste als Schüttgut selbst durch die Mannschaft vorgenommen. Der Hurrikan selbst hatte dem Untergang des Schiffes nur den krönenden Abschluss bescherrt.
Für Bart de Wever war der Fall „Ricochet“ schlichtweg eine Verkettung unglücklicher Umstände, deren menschliches Versagen in Summe gesehen hier vorrangig zu betrachten war. Erst wenige Wochen vor dem Untergang der „Ricochet“ war die „Reliance“, ein Schiff ähnliche Bauweise auf der Handelsroute von Moonglow über Maginicia nach Vesper selbst nur knapp einem schweren Sturm entkommen. Kurz nach Verlassen des Hafens war sie südwestlich auf der Weiterfahrt nach in einen Orkan geraten, den sie vier Tage lang abreiten musste. Auch sie hatte Gerste geladen und durch den Sturm zunehmend Schlagseite bekommen, aber anders als bei der „Ricochet“ lag noch genügend Ballast in der Bilge. Das Schiff kenterte nicht, entging dem Untergang und erreichte dann mit starker Schlagseite Magincia als Nothafen, wo die Gerste dann umgeladen wurde.

Die Admiralität in Britain hatte sich ob sie wollte oder nicht dabei eingestehen müssen, dass beim Untergang der „Ricochet“ doch einige eklatante Fehler und Versäumnisse aufgetreten waren, die es noch abschließend zu klären galt. Die noch offenen Fragen hoffte man nun durch Vernehmung des einzigen Überlebenden abschließend klären zu können. Er ging gedanklich noch einmal die Punkte durch, die noch zu klären waren, und das waren nicht wenige. Aber wie er heute im Gespräch mit den beiden obersten Rittern des Ordens der Silberschlange erfahren hatte, war dieser noch nicht gar nicht wirklich vernehmungsfähig. Es ärgerte ihn ein wenig, wie er sich selbst eingestehen musste. Nur zu gerne hätte er bereits die Untersuchungen beendet und die Akte geschlossen, aber so musste er eben noch warten, bevor er seinen Bericht an die Admiralität schreiben konnte. Er dachte an den Brief, den er kurz nach Bekanntwerden des Unterganges von Mary Russel, der Witwe des Kapitäns erhalten hatte. In diesem bat sie ihm und die königliche Admiralität, da man eh nichts rückgängig machen könne, aus Gründen der Pietät ihr gegenüber die Sache nicht weiter zu verfolgen, sondern auf sich beruhen zu lassen. Aber im Dienste der Gerechtikeit musste diese Sache aufgeklärt werden, damit für die Zukunft solche Vorfälle nicht wieder vorkamen. Vielleicht würde genau dieses Schiffsunglück endlich dazu führen, das es endlich zu einem Umdenken in der Admiralität kam, was den Einsatz von Handelschiffen anging.

Das Feuer im Kamin war nun ziemlich heruntergebrannt. Bart de Wever drückte sich nun aus seinem Sessel hoch, nahm den eisernern Schürhaken von einem Ständer und kniete sich dann vor dem offenen Kamin hin. Er stieß mehmals in die heiße Glut, schürte das Feuer erneut und legte Holz nach. Die tagelange Überfahrt von Trinsic nach Serpent’s Hold hatte ihm wieder arg zugesetzt, dazu kam, das er von dem kleinen Händlerschiff mitten auf See auf die zufällig kreuzende „Silver Sirene“ umsteigen musste, da ein Teil der Mannschaft plötzlich an Gelbfieber erkrankt war und der Kapitän um die Gesundheit des Diplomaten besorgt war. Die Weiterfahrt war zwar auf der Pinasse von Kapitän MacDaragh wesentlich angenehmer verlaufen als auf der kleinen Handelskaravelle, aber gegen die immer wieder kehrende Seekrankheit unter der er litt gab es weder auf der kleinen Karavelle noch auf der Pinasse ein Heilmittel.
Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis der deutlich schlankere Schiffstyp der Fleuten und Pinassen wegen der Berechnungsgrundlagen für die Zollgebühren aufgrund der Deck-Fläche den Galeonen und Karavellen dem Rang ablaufen würde. Der König würde nicht umhin kommen, die Steuergesetze zu überdenken und anzupassen, wenn er nicht noch mehr Verluste hinnehmen wollte. Die Unterhaltung eines Schiffes war nun mal teuer, und jeder Schiffseigner – sei es nun eine Reederei oder ein Kapitän, dem das Schiff selbst gehörte waren stets darauf bedacht, hier wirtschaftlich zu handeln und in aller nur denkliche Weise Kosten zu sparen.
Die Schiffe wurden in den Werften der großen Städte des Landes bereits in standardisierter Bauweise* in Serie hergestellt, was eine enorme Beschleunigung und Kostenreduzierung in der Produktion ermöglichte und gleichzeitig auch die Qualität im Schiffsbau steigerte. Eine gewaltige Schiffsbauindustrie war entstanden. Aber diesen Vorteil nutzten die Städte auch, um die eigene Stellung als Handelsstadt auszubauen. Im Seeverkehr hatte die Dominanz dieses Schiffstyps den Seehandel in kürzester Zeit revolutioniert und binnen weniger Jahre zu einem wirtschaftlichen Siegeszug ohne geschichtliches Beispiel geführt. Die Fleuten transportierten günstiger, schneller und sicherer und ließen die Handelsschiffahrt der britischen Krone auf den sosarischen Weltmeeren katastophenartig zusammen brechen. Durch die Halbierung der Fahrzeiten und die geringe Besatzung der Fleuten entstanden gigantische Überkapazitäten an Schiffen und Seeleuten. Der Ruf nach Ausnahmegesetzen wurde bereits laut, da die meisten Kaufleute ihre Waren nun auf den Fleuten und nicht mehr auf den Schiffen der Krone transportiereren ließen. Infolge dessen hatten viele der Kauffahrer keine Arbeit, die Löhne der Seeleute verfielen zunehmend mehr, und so wandten sich viele schließlich als letzten Ausweg der Piraterie zu. In einer Mischung aus Seeraub, Schmuggel und Handel beteiligten sie sich nun als Handelskorsaren am Wettlauf um Machtansprüche und Handelsmonopole auf den Meeren dieser Welt.

De Wever erhob sich wieder, ging hinüber ans Fenster und schaute hinaus. Ruhe war über den Hafen eingekehrt. Am Himmel stand der volle Mond und schickte sein silbernes Licht wie eine Straße über die sanfte Dünung im Hafen. Die Schiffe, die sich in schwarzen Schatten abhoben, schaukelten im ruhigen Wasser des Hafenbeckens. Jetzt zur Nacht waren die Anlegeplätze zusätzlich belegt mit den Schiffen und Schuten der Ewerführer. Von einem dieser Schiffe blitzte ein Licht auf und kurz darauf wieder. Bart de Wever hätte dem weiter keine Bedeutung geschenkt, hätte sich nicht kurze Zeit später ein Ruderboot von der Kaimauer gelöst. Er runzelte kurz die Stirn und hatte fast das Gefühl, das das Übel der Seekrankheit ihn wieder einholte. Es gefiel ihm nicht. Aber da er ohnehin noch ein paar Tage auf der Insel bleiben musste – fast zu Untätigkeit verdammt, da die Vernehmung des Überlebenden noch warten musste – war dies die Gelegenheit, sich einer Aufgabe zu widmen, der ihm persönlich mehr am Herzen lag.

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* Eine Fleute war in der Regel zwischen 28 und 36 m lang und konnte ca. 150 bis 400 Tonnen fassen. Die Besatzung des Schiffes belief sich von 8 bis 22 Mann, die Bewaffnung war meist eher leicht.
 
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